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Arbeit - Kinder - Haushalt

„Mütter dürfen nicht krank werden“

Wie sieht der Alltag von Frauen heute aus? Welche gesellschaftlichen Probleme müssen weiter gelöst werden? Ein Gespräch mit Product Managerin Anne Weiser, Erzieherin Derya Trempnau und der Gleichstellungsbeauftragten Christiane Witt.

Die Gleichstellungsbeauftragte in Teltow-Fläming, Christiane Witt (60), die Berliner Erzieherin Derya Trempnau (40) und die Product Managerin aus Hannover, Anne Weiser (38) (v.l.n.r.).

E&W: Frau Weiser, Sie sind Mutter zweier Kinder, drei und sechs Jahre alt, und in der freien Wirtschaft beschäftigt. Die steht nicht in dem Ruf, sonderlich familienfreundlich zu sein. Wie ist das bei Ihnen?

Anne Weiser: Ich arbeite seit elf Jahren in der freien Wirtschaft, in dieser Zeit hat sich viel getan. Familienfreundlichkeit ist mittlerweile ein großes Thema. In den Unternehmen, in denen ich tätig war, wurde darauf geachtet, dass Eltern kleiner Kinder Job und Familie unter einen Hut bringen können.

E&W: Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Weiser: In dem Unternehmen, in dem ich derzeit arbeite, bin ich als Mutter mit einer 85-Prozent-Teilzeitstelle gestartet. Das war schon im Bewerbungsverfahren unproblematisch. Niemand hat sich daran gestoßen, dass ich kleine Kinder habe, und niemand wäre auf die Idee gekommen zu sagen: „Nee, dann können wir Sie nicht nehmen.“

E&W: Klingt nahezu perfekt.

Weiser: Es gibt auch flexible Arbeits- und Homeoffice-Zeiten. Kurz: Ich kann so arbeiten, wie es zu meinem Leben passt und wie es für meinen Arbeitgeber gut ist.

E&W: Frau Trempnau, Sie sind Erzieherin an einer Berliner Ganztagsschule im öffentlichen Dienst. Wie läuft es bei Ihnen?

Derya Trempnau: Ich arbeite ebenfalls Teilzeit, zwischendurch war ich mal auf Vollzeit und habe gemerkt, dass es zu viel ist. Damals hat die gesamte Familie unter der Mehrbelastung gelitten. Als mein Sohn in die Schule kam, bin ich zur Teilzeit zurückgekehrt.

Weiser: Mein Tag ist komplett durchgetaktet: Um sechs Uhr klingelt der Wecker, da schlafen die Kinder noch. Zeit, um mit meinem Mann in Ruhe Kaffee zu trinken, das ist uns sehr wichtig. Danach geht es Schlag auf Schlag: Frühstück, Kinder in die Kita und in die Schule bringen, danach zur Arbeit. An zwei Tagen in der Woche arbeite ich bis 16 Uhr und hole dann die Kinder ab. An den anderen beiden Tagen bin ich bis 18 Uhr in der Firma. Freitags habe ich frei.

E&W: Arbeiten Sie abends weiter?

Weiser: An einem der beiden kürzeren Tage arbeite ich abends, wenn die Kinder im Bett liegen, im Homeoffice weiter, auch schon mal länger.

Trempnau: Ich habe abends frei.

Wenn ich mal drei Stunden Zeit habe, weiß ich gar nicht, was ich zuerst machen soll: lesen, shoppen, Freunde treffen. Am Ende mache ich meist nicht viel, weil ich häufig zu müde bin. (Derya Trempnau)

E&W: Das Teilzeit-Dilemma: Mehrarbeit über die vertragliche und vergütete Zeit hinaus …

Weiser: 2019 will ich nur so viel arbeiten, wie ich muss.

E&W: Frau Witt, Sie sind Gleichstellungsbeauftragte und damit zuständig für Probleme wie die von Frau Weiser und Frau Trempnau. Wie kann der Alltag berufstätiger Frauen entzerrt werden?

Christiane Witt: Das ist eine Herkules-aufgabe, insbesondere in Flächenlandkreisen mit weiten Wegen. Da kommen zum allgemeinen Alltagsstress Probleme hinzu wie: Wenn eine Frau flexibel arbeiten will oder muss, kann es sein, dass die Öffnungszeiten der Kita das nicht zulassen oder die Kinder schon lange vor Schulbeginn mit dem Bus unterwegs sind.

E&W: Wege können nicht wirklich verkürzt werden. Wie helfen Sie konkret?

Witt: Bei uns in Teltow-Fläming in Brandenburg gibt es viele Kitas, das verkürzt die Wege. Aber Alleinerziehende oder Zugewanderte haben kaum soziale Netzwerke, auf die sie rasch zurückgreifen können, beispielsweise wenn ein krankes Kind aus Kita oder Schule abgeholt werden muss.

E&W: Kommen Frauen zu Ihnen, die sagen: „Ich weiß nicht mehr weiter, ich schaff das alles nicht“?

Witt: Erstaunlicherweise nicht. Frauen wenden sich hauptsächlich an mich wegen eines Kita-Platzes. Durch den Zuzug vor allem von Menschen aus der Europäischen Union, darunter viele Familien und gut ausgebildete Frauen, die arbeiten möchten, ist der Bedarf groß.

E&W: Haben Sie angesichts Ihres angespannten Alltags noch Zeit für sich selbst?

Trempnau: Wenn ich mal drei Stunden Zeit habe, weiß ich gar nicht, was ich zuerst machen soll: lesen, shoppen, Freunde treffen. Am Ende mache ich meist nicht viel, weil ich häufig zu müde bin.

Weiser: Bei der Zeit für mich ganz allein mache ich die größten Abstriche. Das hole ich mir zurück, wenn ich mal mit Freundinnen unterwegs bin. Einmal im Jahr nehmen mein Mann und ich ein Wochenende lang eine Auszeit, ohne die Kinder.

Politik muss den Rahmen für Vereinbarkeit vorgeben. Aber wenn Unternehmen und Mitarbeitende gemeinsam besprechen, was beide Seiten brauchen, kann es zu vernünftigen Lösungen kommen. (Anne Weiser)

E&W: Frau Witt, ist eine Work-Life-Balance utopisch?

Witt: Teils, teils. Positiv ist, dass viele Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels Zugeständnisse machen müssen. Familienfreundlichkeit gilt mittlerweile als Vorteil. Große Unternehmen setzen das gut um. Schwierig ist es bei den kleineren Firmen, beispielsweise Handwerks- und Landwirtschaftsbetrieben. Chefs dort schrecken davor zurück, Frauen einzustellen, weil diese wegen Schwangerschaft und Kindern ausfallen könnten.

E&W: Mittlerweile nehmen 79 Prozent der Väter eine zweimonatige Elternzeit, 14 Prozent drei bis neun Monate. Manche Männer bleiben mit kranken Kindern zu Hause. Da bewegt sich doch was.

Witt: Bei manchen kleinen Firmen ist das noch nicht angekommen.

E&W: Wer ist zuständig für Vereinbarkeit: die Familien selbst, die Unternehmen oder die Politik?

Trempnau: Zuerst die Politik, sie muss für Strukturen sorgen, die es Familien erlauben, sowohl der Erwerbsarbeit nachzugehen als auch ein Privatleben zu haben. Aber auch die Unternehmen sollten dafür sorgen, dass es Mitarbeitenden leicht gemacht wird, Job und Familie zu vereinbaren. Die Mitarbeitenden selbst sind auch gefragt, sie sollten die Einsicht mit und Geduld für Eltern aufbringen. Es kann immer passieren, dass eine Mutter oder ein Vater später zur Arbeit kommt, weil der Morgen zu Hause nicht reibungslos geklappt hat.

Witt: Das betrifft nicht nur junge Familien, sondern auch ältere Kolleginnen und Kollegen. Bei uns in der Verwaltung arbeiten 900 Leute, 80 Prozent Frauen, darunter viele junge mit kleinen Kindern. Aber es gibt auch ältere Kolleginnen, die Angehörige pflegen müssen. Der Vereinbarkeitsanspruch muss auch für sie gelten.

Weiser: Politik muss den Rahmen für Vereinbarkeit vorgeben. Aber wenn Unternehmen und Mitarbeitende gemeinsam besprechen, was beide Seiten brauchen, kann es zu vernünftigen Lösungen kommen. Ich habe da gute Erfahrungen gemacht.

E&W: Was sollte jede und jeder selbst tun?

Trempnau: In den Gesprächen mit den Vorgesetzten, die bei uns jedes Jahr stattfinden, sind alle aufgefordert zu sagen, wie es Ihnen geht und was Sie selbst, die Schule, der Hort oder die Kita anders machen sollen. Wichtig ist, alles anzusprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wer das nicht macht, darf sich nicht wundern, wenn sich nichts ändert.

Weiser: Ich erwarte von dem Unternehmen, für das ich arbeite, dass es mir alle Möglichkeiten bietet, Familie und Job unter einen Hut zu bringen. Am Ende bin ich aber selbst dafür verantwortlich, dass es mir gutgeht.

E&W: Ist Teilzeit eine Alternative, wenn der Stress zu groß wird?

Weiser: Für mich in jedem Fall. Mein freier Freitag entspannt die Familiensituation erheblich. Trotzdem muss ich jeden Tag überlegen, wo ich Abstriche mache und mich streng abgrenze.

Immer mehr Menschen bei uns im Landkreis, insbesondere Frauen, sind auf staatliche Zuschüsse zu ihrer Rente oder auf Grundsicherung angewiesen. (Christiane Witt)

E&W: Was meinen Sie damit?

Weiser: Häufig ist es so, dass Teilzeitarbeitende zwar ein Teilzeitgehalt und damit auch eine Teilzeitrente bekommen, aber trotzdem Vollzeit arbeiten. Das geht nicht. Ein bisschen mehr arbeiten erscheint mir normal, aber insgesamt muss sich das die Waage halten.

Trempnau: Bei mir ist es klar geregelt: Ich muss nicht an Gesamt- und Fachkonferenzen teilnehmen, das ist tariflich und im Frauenförderplan festgehalten. Aber ich bin selbst dafür verantwortlich, dass das eingehalten wird, und auch verpflichtet, neue Informationen einzuholen. Ich persönlich ermahne mich immer wieder, nie Unterlagen mit nach Hause zu nehmen, Schriftverkehr erledige ich ausschließlich in der Schule.

E&W: Abgrenzung ist im öffentlichen Dienst leichter als in der freien Wirtschaft?

Weiser und Trempnau: Ja.

E&W: Ein Dilemma: Menschen in Teilzeit haben möglicherweise eine bessere Work-Life-Balance, aber eine geringere Rente.

Witt: Immer mehr Menschen bei uns im Landkreis, insbesondere Frauen, sind auf staatliche Zuschüsse zu ihrer Rente oder auf Grundsicherung angewiesen. Das Rentensystem muss an dieser Stelle grundsätzlich überarbeitet werden. Viele Frauen können nun mal nicht anders als in Teilzeit arbeiten. Sie dürfen am Ende ihres Lebens dafür nicht bestraft werden.

E&W: Warum sind vor allem Frauen betroffen?

Witt: Sie stemmen auch in Brandenburg den größten Teil der sozialen und Care-Arbeit. Das hat mit dem noch immer vorhandenen Grundgedanken zu tun, dass „Frauenarbeit“ nichts wert ist.

E&W: Die Abwertung funktioniert seit Jahrzehnten …

Witt: Da muss gehörig umgelenkt werden, beispielsweise mit einem angemessenen Mindestlohn und einer Aufwertung von Care-Arbeit. Warum nicht das bedingungslose Grundeinkommen einführen?

Mein Mann und ich sind von Hamburg extra nach Hannover gezogen, weil dort unsere Mütter wohnen. Die Kinder haben also beide Großmütter vor Ort. Ohne sie geht es nicht. (Weiser)

E&W: Frau Witt, Alleinerziehende, zu 80 Prozent Mütter, sind von niedrigen Löhnen und einer unzureichenden Rente stärker betroffen als andere Menschen. Wie kümmert sich Ihr Landkreis um Alleinerziehende und deren Familien?

Witt: Gerade werden in allen Kommunen des Landkreises Familienzentren aufgebaut, mit Angeboten für alle Menschen. Auch Sportvereine haben Angebote. Fraglich ist, ob Alleinerziehende diese kennen und nutzen wollen. Ebenso fraglich ist, ob es Angebote sind, die sich gerade Alleinerziehende wünschen.

E&W: Wenn es hart auf hart kommt – wer kümmert sich um Sie und Ihre Kinder, Frau Weiser, Frau Trempnau?

Witt: Mütter dürfen einfach nicht krank werden.

Weiser: Mein Mann und ich sind von Hamburg extra nach Hannover gezogen, weil dort unsere Mütter wohnen. Die Kinder haben also beide Großmütter vor Ort. Ohne sie geht es nicht. Wenn sie auch ausfallen, was hin und wieder vorkommt, geht gar nichts mehr. Das muss man akzeptieren, dann hat das System halt mal Pause.

Trempnau: Bei mir sind sämtliche Großeltern noch berufstätig, die kommen also nicht immer in Frage. Aber ich habe Freunde, die hin und wieder aushelfen.

E&W: Wie bringen sich Ihre Partner ein?

Weiser: Mein Mann orientiert sich beruflich gerade um und studiert noch mal, ich bin derzeit die Hauptverdienerin in der Familie. Mit der Folge, dass sich mein Mann verstärkt um die Kinder kümmert.

Trempnau: Mein Mann ist beruflich viel unterwegs. So bleibt alles an mir hängen: Haushalt, Wäsche, Einkauf.

E&W: Stört Sie das?

Trempnau: Ich wünschte, es wäre anders. Aber mein Mann arbeitet in einer Männerdomäne, dort gibt es keinen -Gedanken an Teilzeit.

E&W: Was bleibt auf der Strecke?

Weiser: Haushalt. Das ist mir mittlerweile egal.

Trempnau: Geht mir ähnlich, daran musste ich mich erst gewöhnen.

Die Männer müssen mit ins Boot, sie müssen verstehen, dass beide Partner für die Vereinbarkeit zuständig sind. Männer dahingehend zu überzeugen, ist eine der größten gleichstellungspolitischen Herausforderungen. (Witt)

E&W: Wirken Sie auf Unternehmen ein, familienfreundlicher zu sein, Frau Witt?

Witt: Die Männer müssen mit ins Boot, sie müssen verstehen, dass beide Partner für die Vereinbarkeit zuständig sind. Männer dahingehend zu überzeugen, ist eine der größten gleichstellungspolitischen Herausforderungen.

E&W: Klingt etwas pessimistisch.

Witt: Vielleicht ist es für die kommende Generation selbstverständlicher, dass sich beide Partner Familienaufgaben teilen.

E&W: Frauen, die ohnehin schon viel arbeiten, engagieren sich häufig noch politisch oder ehrenamtlich. Sie auch?

Weiser: Seit Sommer vergangenen Jahres bin ich im Vorstand der Elterninitiative in der Kita meiner Tochter. Ein Ehrenamt, von dem auch meine Tochter profitiert. Trotzdem frage ich mich oft, wie stark ich mich einbringen muss. Ich achte darauf, dass ich mich nicht übers Maß hinaus belaste.

Trempnau: Ehrenämter und politische Gremien, die mich interessieren, beispielsweise frauenpolitische Organisationen, erfordern Anwesenheit meist abends. Das kann ich zurzeit nicht leisten.

E&W: Wie unterstützen Behörden in den Kommunen Menschen, die ehrenamtlich arbeiten, Frau Witt?

Witt: Wir kämpfen gerade damit, dass die Gleichstellungsbeauftragten hauptberufliche Funktionen bleiben. Mancherorts, wo Kolleginnen in Rente gehen oder den Job gewechselt haben, argumentieren einige Männer, die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten sei doch ein Ehrenamt. Absurd.

E&W: Seit 100 Jahren können Frauen in Deutschland wählen und gewählt werden. Seitdem ist viel passiert. Was ist noch zu tun?

Trempnau: Zuallererst muss die Einkommenssituation von Frauen verbessert werden. Viele bewegen sich an der Armutsgrenze und fühlen sich ständig in ihrer Existenz bedroht.

Weiser: Ich habe drei Wünsche: Frauen sollten genauso viel verdienen wie Männer, die die gleiche Arbeit machen. Erziehungszeiten sollten auf die Rente angerechnet werden. Frauen in Führungspositionen sollten ernster genommen werden als bisher.

Witt: Es sollten sich mehr Frauen trauen, politisch tätig zu sein, und nicht darauf warten, dass sich jemand anderes um ihre Probleme kümmert. Wenn sie es nicht tun, tut es niemand.