Zum Inhalt springen

Mitbestimmung in Bildungseinrichtungen

Mitbestimmung unter Vorbehalt

Fast drei Millionen Menschen besuchen in Deutschland eine Hochschule. Ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten sind eingeschränkt.

Ende der 1960er-Jahre kam es an vielen westdeutschen Universitäten wie hier an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zu Protesten der Studierenden gegen den Vietnamkrieg, die Notstandgesetze, aber auch für mehr studentische Selbstverwaltung. (Foto: IMAGO/Heinz Gebhardt)

In den mittelalterlichen Universitäten Europas hatten die Studierenden viel zu sagen. Mit ihren Professoren waren sie weitestgehend gleichgestellt, und in Bologna wurde der Rektor gar aus der Gruppe der Studierenden gewählt. Diese hatten umfangreiche Rechte, ihr Studium selbst zu bestimmen. Heute rekrutieren sich die Studierenden nicht mehr nur aus einer kleinen männlichen Elite. Allein in Deutschland besuchen fast drei Millionen Menschen eine Hochschule. Mit einer mittelalterlichen Alma Mater hat die moderne Massenuniversität wenig gemein. Dennoch ließe sich provokant sagen: Im Vergleich zu damals haben die Studierenden heutiger Hochschulen an Mitbestimmungsmöglichkeiten eingebüßt. Weder sind sie in den Hochschulleitungen vertreten, noch haben sie das letzte Wort, wenn es um die Inhalte ihres Studiums geht.

„Überall wird über die Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung geklagt. Gleichzeitig überlässt man den jungen Menschen an Schulen und Hochschulen wenig Entscheidungsgewalt über ihre unmittelbare Lebenswelt.“ (Daryoush Danaii)

Für Daryoush Danaii, Vorstandsmitglied im freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs), leiden die heutigen Hochschulen unter einem Demokratiedefizit: „Überall wird über die Demokratieverdrossenheit in der Bevölkerung geklagt. Gleichzeitig überlässt man den jungen Menschen an Schulen und Hochschulen wenig Entscheidungsgewalt über ihre unmittelbare Lebenswelt.“ Dabei gebe es für Studierende durchaus Chancen, sich an der eigenen Uni einzubringen, betont Danaii, der Politikwissenschaften in Hannover studiert und Mitglied in zahlreichen Hochschulgremien war und ist.

Um zu erkennen, wo Möglichkeiten und Grenzen studentischer Mitbestimmung liegen, muss man sich allerdings erst einmal mit einem historisch gewachsenen, ausufernden Wirrwarr an Entscheidungsstrukturen vertraut machen.

Stimme der Studierenden

Eine Stütze studentischer Beteiligung ist die Verfasste Studierendenschaft (VS), auch studentische Selbstverwaltung genannt. Diese besteht aus den Fachschaften, die an den einzelnen Instituten Ansprechpartner für die Studierenden sind, aus dem Studierendenparlament sowie dem Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA), der vom Parlament gewählt wird und eine Art Regierung der Studierenden ist. Die verschiedenen Akteure der VS beraten zu Themen wie Studienfinanzierung, Prüfungsrecht und Diskriminierung. Sie sind die Stimme der Studierenden, begleiten und kommentieren hochschulpolitische Vorgänge. Außerdem haben sie eigene Räume, können Veranstaltungen organisieren, studentische Projekte fördern und so zur Meinungsbildung ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen beitragen.

Die ersten ASten, die den Anspruch hatten, alle Studierenden einer Universität zu vertreten, gründeten sich in Deutschland um 1900, ab 1920 kann man von einer VS im heutigen Sinne sprechen. Deren Kontinuität – mit einer Unterbrechung in der Zeit des Nationalsozialismus – reicht bis in die heutige Zeit.

Im Zuge der Auseinandersetzung um die demokratische Verfasstheit der Hochschulen im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre kam noch einmal Bewegung in die Sache: Zwar gewannen die Studierenden insgesamt an Mitbestimmungsmöglichkeiten hinzu. In einigen Bundesländern wurden aber nach und nach die als zu links wahrgenommenen Studierendenschaften geschwächt und die Möglichkeiten studentischer Selbstverwaltung eingeschränkt.

„Die studentischen Vertretungen sind in Bayern stets von der Gunst der Hochschulleitungen abhängig.“ (Marie Müller)

Das einzige Bundesland, das seinen Studierenden nach wie vor keine eigenständige Verwaltung zugesteht, ist Bayern, das die VS 1974 abschaffte. „Die studentischen Vertretungen sind in Bayern stets von der Gunst der Hochschulleitungen abhängig“, sagt Marie Müller, ebenfalls Mitglied im Vorstand des fzs. Müller studiert zurzeit an der Universität Köln, den Bachelor hat sie aber in Bamberg gemacht. Hier werde einem schnell deutlich, wie eng die Grenzen für die studentische Mitbestimmung gesetzt seien, erzählt sie: „In Bayern verfügt die Studierendenschaft nicht frei über eigene Gelder und kann nur ein begrenztes Unterstützungsangebot leisten.“

Wie gut die studentische Interessenvertretung finanziell ausgestattet ist, hänge vom Wohlwollen und vor allem vom Spielraum des Haushalts der jeweiligen Universität ab. Reiche Hochschulen könnten den Studierenden mehr Gestaltungsmöglichkeiten zugestehen als arme. Müller bedauert diese Sonderstellung Bayerns sehr: „Solange es aber keinen Regierungswechsel im Land gibt, sind die Chancen für eine Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft gering.“

Professoren haben Mehrheit der Stimmen

Dort, wo es eine studentische Selbstverwaltung gibt, haben Studierende also einen recht großen Freiraum, wenn es um die Themen und Probleme geht, die in ihren Aufgabenbereich fallen. Dazu zählen jedoch nicht die entscheidenden Fragen nach dem Aufbau der Universität, was von wem erforscht oder was in den Hörsälen gelehrt wird. Solche Entscheidungen werden zu einem großen Teil in den Gremien der „akademischen Selbstverwaltung“ getroffen. Neben der studentischen ist das die zweite Säule der universitären Selbstorganisation, und auch hier sind Studierende vertreten.

Doch nachdem es in den späten 1960er-Jahren einen demokratischen Aufbruch an den Hochschulen gegeben hatte und vielerorts die sogenannte Drittelparität, nach der in den Gremien Professoren, Wissenschaftler aus dem Mittelbau und Studierende zu jeweils gleichen Teilen vertreten sind, eingeführt worden war, beendete 1973 das Bundesverfassungsgericht dieses Experiment jäh. Seitdem gilt: An den entscheidenden Stellen behalten die Professoren die Mehrheit der Stimmen, kann gegen sie selten etwas entschieden werden.

„Die Entscheidungen über Infektionsschutzmaßnahmen wurden meist undemokratisch getroffen, und in den Corona-Krisenstäben der Hochschulen waren oft keine Studierenden vertreten.“

Während der Corona-Pandemie hätten sich die Handlungsspielräume der studentischen Vertreterinnen und Vertreter noch weiter verkleinert, sagt Danaii. Seine Beobachtung: „Die Entscheidungen über Infektionsschutzmaßnahmen wurden meist undemokratisch getroffen, und in den Corona-Krisenstäben der Hochschulen waren oft keine Studierenden vertreten.“ Damit habe sich ein Zustand verschärft, der auch vor der Pandemie schon herrschte: „Wie sehr die Studierenden als politische Subjekte an der Uni wahrgenommen werden, hängt allzu oft vom guten Willen der Professorinnen und Professoren oder der Hochschulleitung ab – das darf eigentlich nicht sein.“

Die studentischen Interessenvertreterinnen und -vertreter haben in der Zeit der Hochschulschließungen getan, was sie konnten: Sie haben an vielen Standorten die für den Digitalunterricht nötige Technik an bedürftige Studierende verteilt, haben sich, so gut es ging, für eine Anpassung der Prüfungs- und Benotungspraxis eingesetzt. Wenn Appelle nicht mehr halfen, wurde auch zu Demonstrationen aufgerufen – ein Mittel der Beteiligung, das Studierende immer wieder wählen müssen, um ihren Interessen Nachdruck zu verleihen, und das zeigt, dass die institutionellen Wege der Mitbestimmung für sie schnell ausgereizt sind.

Geringe Wahlbeteiligung

Der eingeschränkten Möglichkeiten studentischer Teilhabe an den Unis ist sich auch Gabriel Tiedje, Referent für Hochschulpolitik des AStA an der Technischen Hochschule Berlin, bewusst. Das Hauptproblem sieht er aber in der politischen Kultur an den Hochschulen. „Die Beteiligung an Uniwahlen ist unter den Studierenden in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gesunken. Die meisten von ihnen haben das Gefühl, sowieso nichts ändern zu können“, sagt Tiedje. Würde man den Studierenden von heute auf morgen die Mehrheit der Sitze in den Hochschulgremien anbieten, fänden sich gar nicht genug Interessierte, um diese zu besetzen, vermutet Tiedje.

Er glaubt, die hochschulpolitische Verdrossenheit der Studierenden habe auch viel mit der -Bologna-Reform zu tun. Die vor gut 20 Jahren eingeführte Verschulung des Studiums, die Begrenzung der staatlichen Studienfinanzierung und die Notwendigkeit für viele Studis, nebenbei zu arbeiten, ließen immer weniger Zeit und Lust für politisches Engagement.

Tiedjes Meinung nach müssen die -Voraussetzungen für eine stärker politisierte Studierendenschaft erst noch geschaffen werden. Das heißt: eine bessere finanzielle Absicherung der Studierenden und mehr Zeit und Freiheit im Studium. Vielleicht könne dann, so der Berliner AStA-Referent, „der Campus von den Studierenden als einer ihrer Lebensmittelpunkte wahrgenommen werden, als ein Ort, den man gestalten kann“. Tiedje ist überzeugt: Von einer solchen Sichtweise würden nicht nur die Studierenden, sondern auch die Universitäten insgesamt profitieren.

Heute treiben die Studentinnen und Studenten weniger die allgemeine politische Lage und mangelhafte Demokratie auf die Straße. Es geht um praktische Dinge wie fehlende Wohnheimplätze oder schlechte Studienbedingungen. (Foto: IMAGO/Müller-Stauffenberg)