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Bildungspolitik

Mit Lesen, Schreiben, Rechnen ist es nicht getan

Seit 2021 berät die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) die Kultusministerkonferenz (KMK). Ihr kürzlich vorgelegtes Grundschulgutachten wirft kein gutes Licht auf die Schulpolitik der KMK.

Foto: Dominik Buschardt

Die Ergebnisse des im Oktober veröffentlichten Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) schreckten die Öffentlichkeit auf: Jedes fünfte Kind erreicht in Deutsch und Mathe nicht, was die Wissenschaft „basale Kompetenzen“ nennt. Laut der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KIGGS) zeigt rund ein Viertel der Sieben- bis Zehnjährige psychische Auffälligkeiten. Besonders betroffen sind sozioökonomisch Benachteiligte, was bedeutet: Die soziale Schere in Deutschland öffnet sich immer weiter.

„Der Abstand zwischen den starken und schwachen Schüler:innen vergrößert sich“, konstatiert denn auch das Anfang Dezember veröffentlichte Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“ der SWK. Als Konsequenz führen die Bildungsexpertinnen und -experten Maßnahmen auf, die teils sofort, teils nur sehr langfristig umgesetzt werden können.

Ein Schwerpunkt der Empfehlungen ist eine datenbasierte Schulentwicklung.

Eine Auswahl: In vier Jahren Grundschule sollen 24 Wochenstunden Deutsch und 20 Wochenstunden Mathe unterrichtet werden. Beginnen soll Sprach- wie mathematische Förderung bereits in der Kita; alle Drei- bis Vierjährigen – nicht nur Kita-Kinder – sollen auf einen „zusätzlichen Förderbedarf“ getestet werden. Die SWK empfiehlt, der sozialen Segregation an bestimmten Grundschulen, „aktiv entgegenzuwirken“. Denkbar wären „Magnetschulen“, die Eltern aus der Mittelschicht überzeugen. Auch ein neuer Zuschnitt von Einzugsbereichen im „Sinne einer Verringerung der sozialen Segregation“ wird angeregt.

Einen Schwerpunkt legen die Empfehlungen auf datenbasierte Schulentwicklung. „Mehrmals pro Schuljahr“ soll in diagnostischen Tests der Lernstand erhoben werden. „Wir müssen systematisch schauen, was jedes Kind kann und was es lernen muss“, erklärte SWK-Mitglied Prof. Michael Becker-Mrotzek. Zusätzlich zu den Regel- sollen Mindeststandards den Weg weisen, was erreicht werden muss. In jedem Schulprogramm soll ein „Konzept zur systematischen Diagnose und Förderung basaler Kompetenzen“ verankert werden.

 

 „Es sind so viele Menschen und Professionen im System wie nie zuvor. Es geht darum, Ressourcen richtig einzusetzen.“

(Karin Prien)

 

Weil das nicht von selbst geht, macht die SWK eine Reihe Empfehlungen für Aus- und mehr Fortbildung: Schon bei Erzieherinnen und Erziehern soll mehr Wert auf die Förderung „sprachlicher, mathematischer und sozial-emotionaler Kompetenzen“ der Kinder gelegt werden. Auch Lehrkräfte und Schulleitungen sollen entsprechend fortgebildet werden. Das Gutachten plädiert zudem für mehr multiprofessionelle Teams an den Schulen, „im Sinne kokonstruktiver Kooperation“ bis hin zum „Co-Teaching“.

Angesichts dessen musste die Reaktion von KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) bei der Pressevorstellung doch überraschen.  Kinder hätten ein „Recht, die Mindeststandards zu erreichen“, erklärte sie, für Investitionen sieht Prien offenbar keinen Anlass: Es seien „so viele Menschen und Professionen im System wie nie zuvor“; es gehe darum, „Ressourcen richtig einzusetzen.“

„Es braucht massive Investitionen in die Attraktivität des Berufs.“

(Anja Bensinger-Stolze)

 

Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule, kontert: „Eine skandalöse Äußerung! Die Grundschulen werden seit Jahrzehnten kaputtgespart.“ Angesichts des „massiven Schulleitungs- wie Lehrkräftemangels“ gebe es gar nicht das Personal, um grundlegende Reformen anzugehen: „Es braucht massive Investitionen in die Attraktivität des Berufs.“ Bensinger-Stolze warnt zudem vor einer Grundschule, die über den Blick auf Basiskompetenzen nicht hinausgeht: „Lesen, Schreiben, Rechnen sind zentrale Kompetenzen, aber damit ist es nicht getan.“

„Individuelle Förderung kann man nicht während der Kita-Mittagsruhe planen“.

(Doreen Siebernik)

Bis Sommer 2023 will die KMK den Schulministerinnen und -ministern eine Prioritätenliste zur Umsetzung der Empfehlungen vorlegen. Bereits zuvor sind Gespräche mit den Jugendministerinnen und -ministern angedacht. Insgesamt geht die KMK laut Prien von einem „Projekt für eine Dekade“ aus.

Ein inzwischen gut 20 Jahre altes Papier der KMK lässt befürchten, dass es länger dauern wird: In den „Zentralen Handlungsfeldern“, 2002 in Reaktion auf den PISA-Schock erstellt, findet sich bis in den Wortlaut Identisches –  von einer „durchgängigen Verbesserung der Lesekompetenz“ bis zu „Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich“. Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit, überrascht das nicht: „Individuelle Förderung kann man nicht während der Kita-Mittagsruhe planen“. Trotz aller Absichtserklärungen blieb in den vergangenen Jahren der Fokus beim Kitaplatz-Ausbau auf die Betreuung von Kindern beschränkt. „Es braucht Zeit für Vor- und Nachbereitung, einen besseren Betreuungsschlüssel, eine andere Ausbildung – auch im Hinblick auf bessere Entwicklungschancen für Erzieherinnen und Erzieher,“ erklärt Siebernik.  

Info: Die Kultusministerkonferenz beschloss am 15. Oktober 2020 die Einrichtung der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission. Sie soll auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes bestehende Probleme im Bildungswesen identifizieren und Handlungsempfehlungen aussprechen, insbesondere im Hinblick auf die generelle Qualität sowie die Vergleichbarkeit des Bildungswesens. 2021 nahm die Kommission ihre Arbeit auf. Sie besteht aus 16 Personen: zwölf berufenen und vier weiteren Mitgliedern. Die Einrichtung der Kommission erfolgte befristet für die Dauer von sechs Jahren bis 2027.