75 Jahre Grundgesetz
Mit Ewigkeitsgarantie
Mit dem Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik erhielt der Sozialstaat in Deutschland am 23. Mai 1949 erstmals Verfassungsrang. Das GG schützt auch die sozialen Rechte vor den aktuellen Angriffen aus konservativen Kreisen.
Während die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 die sozialen Grundrechte einzeln aufführte, fehlen im Grundgesetz detaillierte Bestimmungen zu den Schutzrechten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie sozial Benachteiligte. Deshalb war das Sozialstaatsgebot (Artikel 20 Absatz 1 und Artikel 28 Absatz 1 GG) in der Folgezeit heftig umkämpft. Parteipolitisch durch die wiedergegründete SPD und die christliche Sammelpartei CDU (zusammen mit der CSU in Bayern) repräsentiert, standen sich zwei Sozialstaatsmodelle gegenüber, für die das Grundgesetz offen war: „Demokratischer Sozialismus“ und „sozialer Kapitalismus“ ließen sich beide mit ihm vereinbaren, denn mit Blick auf die Wirtschaftsordnung (Artikel 14/15 GG) hatte sich der Parlamentarische Rat nicht festgelegt.
Nach einem knappen Wahlsieg der Union bei der ersten Bundestagswahl im September 1949 wurde das von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard (beide CDU) entwickelte Projekt der „Sozialen Marktwirtschaft“ umgesetzt – den Begriff bezeichnete der SPD-Bundes-tags-abgeordnete Dieter Lattmann später einmal als „Kosenamen für den Kapitalismus“. Von großer Bedeutung blieb allerdings das an die sogenannte Ewigkeitsgarantie (Artikel 79 Absatz 3 Satz 3 GG) geknüpfte Postulat der Bundesrepublik als „demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ (Artikel 20 Absatz 1 GG) bzw. als „sozialer Bundesstaat“ (Artikel 28 Absatz 1 Satz 1 GG).
Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat sind demnach Anschläge auf die Verfassung und als solche zu bekämpfen.
Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat sind demnach Anschläge auf die Verfassung und als solche zu bekämpfen. Aufgrund der engen Verzahnung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit im Grundgesetz bildet Letztere ein zentrales Ordnungsprinzip der Bundesrepublik, zu dessen Verteidigung gegen Versuche, es zu beseitigen, die Verfassung im Extremfall nach Artikel 20 Absatz 4 GG allen Deutschen das Widerstandsrecht einräumt, wenn anders keine Abhilfe möglich ist.
„Wirtschaftswunder“ erweiterte Verteilungsspielräume
Kanzler Konrad Adenauer (CDU) kündigte nach seiner Bestätigung in der Bundestagswahl 1953 eine „umfassende Sozialreform“ an, mit der alle bisher benachteiligten Gesellschaftsschichten besser abgesichert werden sollten. Was nach einem Gesamtkonzept klang und ein großer Wurf werden sollte, beschränkte sich nach jahrelangem Tauziehen innerhalb der Unionsparteien jedoch auf den Bereich der Alters- und Invaliditätssicherung. Zu den politischen Bremsern gehörte übrigens Erhard, damals Bundeswirtschaftsminister und später Nachfolger Adenauers.
Während der Rekonstruktionsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren außergewöhnlich günstigen Bedingungen für Wachstum und Wohlstand erweiterte das sogenannte Wirtschaftswunder die Verteilungsspielräume und ermöglichte es der bürgerlichen Regierungskoalition, eine expansive Sozialpolitik zu betreiben. Gleichwohl bedurfte es der außerparlamentarischen Mobilisierung Betroffener, um den Gesetzgeber für entsprechende Initiativen zu gewinnen. Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und andere Organisationen setzten weitere Verbesserungen im Sozialbereich nur mit Druck durch.
Erinnert sei an die zahlreichen Massendemonstrationen, Kundgebungen und Kriegsopfermärsche auf die damalige Bundeshauptstadt Bonn, aber auch an den langen, vom 24. Oktober 1956 bis zum 15. Februar 1957 dauernden Streik der Metallarbeiter in Schleswig-Holstein, mit dem diese ihrer Gleichstellung mit den Angestellten hinsichtlich der Lohn- bzw. Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall wieder ein Stück näherkamen.
Fragt man nach dem aktuellen Stellenwert des Grundgesetzes und der sozialen Grundrechte, so sehen sich beide wieder Angriffen ausgesetzt, weil sich Deutschland wegen der Covid-19-Pandemie, des Ukrainekrieges, der Energiepreisexplosion und der Inflation gegenwärtig im Krisenmodus befindet.
Neben dem darauf gründenden „Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle“ vom 26. Juni 1957, das die Arbeitgeber verpflichtete, nach zwei Karenztagen sechs Wochen lang einen Zuschuss zum Krankengeld bis zur Höhe von 90 Prozent des Nettolohns zu zahlen, bildeten einerseits das Gesetzeswerk zur Rentenreform sowie andererseits das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961, mit dem die öffentliche Fürsorge durch einen vor Gericht einklagbaren Rechtsanspruch auf Mindestsicherung ersetzt wurde, legislative Höhepunkte.
Fragt man nach dem aktuellen Stellenwert des Grundgesetzes und der sozialen Grundrechte, so sehen sich beide wieder Angriffen ausgesetzt, weil sich Deutschland wegen der Covid-19-Pandemie, des Ukrainekrieges, der Energiepreisexplosion und der Inflation gegenwärtig im Krisenmodus befindet. Da häufen sich Kampagnen der CDU/CSU und der Boulevardpresse gegen das Bürgergeld, dessen Regelsätze so hoch seien, dass sich Erwerbsarbeit zumindest für Geringqualifizierte kaum noch lohne. CDU-Politiker rufen nach einer Arbeitspflicht für Bürgergeld-Bezieherinnen und -Bezieher, obwohl unsere Verfassung diese nur „im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstpflicht“ (Artikel 12 Absatz 2 GG) erlaubt und Zwangsarbeit außer „bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung“ (Artikel 12 Absatz 3) für unzulässig erklärt.
Aktuell werden soziale Grundrechte wieder angegriffen
Bei den Gewerkschaften klingelten die Alarmglocken, als Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) nach den Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei der Deutschen Bahn laut über die Einschränkung des Streikrechts zumindest im Bereich der kritischen Infrastruktur nachdachte, obwohl unsere Verfassung das Streikrecht ausdrücklich garantiert (Artikel 9 Absatz 3 GG). Noch fragwürdiger war die Forderung des CDU-Bundestagsabgeordneten Jens Spahn, notfalls die Verfassung zu ändern, um schärfere Sanktionen beim Bürgergeld durchzusetzen.
Der frühere Bundesgesundheitsminister scheint das Grundgesetz schlicht nicht zu kennen, denn das Bundesverfassungsgericht hat sich bei seinem maßgeblichen Sanktionsurteil vom 5. November 2019 (Az. 1 BvL 7/16) auf Artikel 1 Absatz 1 zur Würde des Menschen und das Sozialstaatsgebot von Artikel 20 Absatz 1 gestützt – zwei Verfassungsnormen, die wegen der Ewigkeitsgarantie selbst bei einer hundertprozentigen Mehrheit einer Partei im Parlament nicht verändert werden können. Wenn es um die Würde des Menschen, den Sozialstaat und die Demokratie geht, hat der Verfassungsgesetzgeber solch inhumanen Ideen zum Glück einen Riegel vorgeschoben.
Prof. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich die beiden Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.