Bildung in Finnland – Respekt, Wertschätzung und Ressourcen
Helsinki im Sommer, es ist angenehm warm, zwei meiner drei Kinder haben in der ersten Ferienwoche ein Musikiileiri, eine musikalische Sommerschule. In der Pause geht die junge Lehrerin mit ihren 15 kleinen Schülerinnen in einen nahegelegen Park. Die Kinder haben alle ein Schüsselchen und einen Löffel dabei. Nach kurzer Zeit kommen zwei kräftige Frauen mit einem großem Topf, in dem sich Suppe oder manchmal auch Puuro, der finnische Haferbrei, befindet. Alle Kinder im Park bekommen eine kostenlose Mahlzeit, einzige Bedingung ist, dass sie eine Schüssel dabei haben.
So erleben die Kinder schon früh, dass die Gesellschaft sie versorgt, wahrnimmt und wertschätzt. Unsere jüngste Tochter geht in einen finnischen Kindergarten, sie hat einen Ganztagesplatz von 8.00 bis 17.00 Uhr. Wir müssen fünf Minuten zu Fuß zu dem Kindergarten laufen, der Platz kostet für uns in der höchsten Kategorie 254e. Darin enthalten ist die komplette Verpflegung für den ganzen Tag und die Kosten für alle weiteren Aktivitäten, sei es Schlittschuhlaufen oder Schwimmen.
Kein Kind darf zurückbleiben
Einmal im halben Jahr werden wir Eltern zu einem Entwicklungsgespräch eingeladen, in dessen Verlauf der Entwicklungsstand des Kindes besprochen wird und Erziehungsschritte für Kindergarten und Zuhause besprochen werden. Bei diesem Gespräch ist, ganz selbstverständlich und kostenfrei, ein Dolmetscher dabei, den nicht wir als Eltern mitbringen müssen, sondern den die Kindergartenleitung bei einer zentralen Stelle bestellt und der für Migranten kostenlos in ihrer Muttersprache gestellt wird. So erleben auch wir - wenn auch nur als Migranten auf Zeit in Finnland - Wertschätzung unserer Sprache und Kultur gegenüber. Wir haben nicht das Gefühl, dass wir als Ausländer in ständiger Bringschuld dem Einwanderungsland gegenüber sind. Vielmehr auch hier Respekt und Wertschätzung, diesmal nicht dem Kind, sondern den Eltern gegenüber.
Die deutsche Schule in Helsinki ist Anlaufpunkt für viele deutsche Bildungsreisende, die oftmals zu uns kommen, da an der DSH auch viele Segnungen der finnischen Bildungsphilosophie umgesetzt worden sind, angefangen vom gemeinsamen kostenlosen Mittagessen, von der Gesundheitsfürsorge über die Schülerbetreuungsgruppe bis hin zum kostenlosen und schulinternen Fördersystem bei Schulschwierigkeiten. Interessante Gespräche schließen sich meist an einen von mir oder anderen Mitgliedern der Schulleitung gehaltenen Vortrag an. Dann geht es häufig um die Frage nach dem Geheimnis der finnischen Methode, die sie zum PISA-Primus macht.
Was ist der Kern des finnischen Bildungserfolges? Was bedeutet es im Alltag, wenn der Fokus der Bildung nicht auf Selektion ausgerichtet ist, sondern die Bildungseinrichtungen dem Credo folgen: Kein Kind darf zurückbleiben?
Gemeinsam Essen – Grundlagen schaffen
Jede Einrichtung in Finnland, die sich um Kinder kümmert, muss nicht nur Räume und pädagogisches Personal zur Verfügung stellen, sondern die Kinder haben auch Anspruch auf Verpflegung. Alle Schüler der DSH bekommen ein kostenloses Mittagessen in unserer Mensa. Dieses Essen muss nicht die Schule bezahlen, sie bekommt das Geld von der Stadt Helsinki. Von klein auf sind die Kinder so gewohnt, dass sie sich ihr Essen selbständig am Buffet holen, gemeinsam mit ihren Klassenameraden und den Lehrern essen und am Ende Geschirr und Tablett wieder abgeben.
Täglich gibt es frischen Salat, Milch und Wasser zu den Mahlzeiten, die Mensamitarbeiterinnen achten darauf, dass das Essen ausgewogen und wohlschmeckend ist. Täglich gibt es Hinweise, wie die ideale Zusammensetzung des Essens aussehen sollte. Das gemeinsame Essen trainiert so sinnvolle Ernährungsgewohnheiten, aber auch soziale Fähigkeiten, die wiederum die Grundlage für zufriedenstellenenden Unterricht sind.
Die Gesundheitsfürsorgerin – Vorsorge, Rat und Verständnis
Während des Unterrichtes meldet sich ein Schüler mit Kopfschmerzen. Der Lehrer schickt den Schüler zur Gesundheitsfürsorgerin. Nach einiger Zeit taucht der Schüler wieder auf, in der Hand hat er ein Formular der Gesundheitsfürsorgerin. Dort steht, dass der Schüler krank sei und nach Hause gehen darf. Die Gesundheitsfürsorgerin habe bereits mit den Eltern gesprochen. Das Kind werde abgeholt. An jeder Schule arbeitet eine solche Gesundheitsfürsorgerin. Sie ist nicht Angestellte der Schule, sondern der Gemeinde.
Sie sorgt sich um den Gesundheitszustand der Schüler, führt Reihenuntersuchungen der Klassen durch, verabreicht Impfungen und ist Ansprechpartnerin in allen gesundheitlichen Fragen. Sie darf zudem Atteste schreiben und Schüler zu Fachärzten und Krankenhäuser überweisen. Im Schulalltag ist das für Schüler wie Lehrer eine große Hilfe und Entlastung. Zudem hat sie das Ohr viel direkter an den Problemen und Bedürfnissen der Schüler und kann oft auch bei schwereren Erkrankungen wie Anorexie oder Bulimie frühzeitig eingreifen.
Die Lernmittelfreiheit – Investition in die Zukunft
Alle Lernmittel, angefangen von Büchern über Hefte bis hin zum einzelnen Radiergummi, sind in den Klassen 1-9 frei. Eltern müssen dafür nichts bezahlen. Jedes Buch, was angeschafft wird, bekommen die Kinder umsonst in die Hand. Teilweise dürfen sie die Bücher jedoch nicht behalten, sondern müssen sie in gutem Zustand am Ende des Jahres wieder abgeben. Bei Verlust oder Beschädigung des Buches müssen die Eltern des Kindes das ersetzen. Die Bestände verwaltet in Absprache mit den Fachleitungen eine Sekretärin, sodass keine zusätzliche Arbeit für die Lehrer entsteht.
Autonomie von Schule – Vertrauen statt Kontrolle
Das Sozialprestige der Lehrer in Finnland ist sehr hoch. Die Eltern, aber auch die Behörden vertrauen darauf, dass sie gut ausgebildete Lehrer haben, die ihr Handwerk verstehen. Lehrer zu werden ist in Finnland eine Auszeichnung. Nur zehn Prozent der Bewerber werden zu einem Lehramtsstudium zugelassen. Die Schulinspektion, wie sie gerade in Deutschland wieder verstärkt eingeführt wird, ist in Finnland bereits 1995 abgeschafft worden. Das heißt nicht, dass jede Schule unkontrolliert vor sich hin werkeln darf. Den Schulen wird ein vielfältiges Evaluationsinstrumentarium zur Verfügung gestellt, mit dem sie selbst feststellen können, an welcher Stelle Entwicklungsbedarf vorliegt.
Beispielsweise führt die DS Helsinki jedes Jahr die STAKES-Befragung in dem 8. und 9. Jahrgang durch. Die Befragung wird vom Sozial- und Gesundheitsministerium durchgeführt und den Schulen die eigenen und Vergleichswerte der Schulen in Helsinki zur Verfügung gestellt. Mithilfe der Umfrage erwirbt die Schule umfassende Kenntnisse über das Leben und Fühlen der Schüler, in und außerhalb der Schule. Abgefragt werden Ernährungsgewohnheiten, Erfahrungen mit Drogen und Suchtmitteln, Zufriedenheit mit Elternhaus und Schule, Stress mit Hausaufgaben. Entwicklungsschwerpunkte und Erfordernisse können auf der Grundlage der Untersuchung so gemeinsam mit Schülern, Eltern und Lehrern diskutiert und Veränderungen eingeleitet werden. Zur Autonomie der Schule gehört natürlich auch, dass sie ihr Personal selbst aussuchen und einstellen kann. Dies ist zwar viel Arbeit für die einzelnen Schulen, sorgt aber auf lange Sicht für Zufriedenheit aufseiten der Schule und der Mitarbeiter, da sich jeweils die richtigen Partner gewählt und gefunden haben.
Gemeinsam lernen – gemeinsam lehren
Bereits Anfang der 70iger Jahre ist die grundbildende Gemeinschaftschule in Finnland eingeführt worden. Das heißt, alle Kinder gehen gemeinsam in eine Schule bis einschließlich zur neunten Klasse. Innerhalb der Klassen sind die Niveaukurse ebenfalls abgeschafft worden. Diese bewusste Entscheidung für das Lernen in heterogenen Gruppen hat für das Lehren und Lernen natürlich erheblich Konsequenzen. Damit aber die Lehrer mit den Aufgaben des Unterrichtens in heterogenen Lerngruppen nicht überfordert sind, gibt es ein System des Stützens und Helfens.
An der DSH unterstützt die Schülerberatungsgruppe, bestehend aus der Grundschulleiterin, der finnischen Schulleiterin, der Psychologin, den beiden Sonderpädagogen sowie der Sozialarbeiterin und bei Bedarf der Gesundheitsfürsorgerin die Lehrer. Regelmäßig werden die Klassenleitungen eingeladen, mögliche Probleme besprochen und gemeinsame Strategien entwickelt. Auch die Schüler können jederzeit mit den Sozialarbeitern, der Psychologin und der Gesundheitsfürsorgerin sprechen, da sie ganztägig an der Schule arbeiten.
Autonomie von Schule – Vertrauen statt Kontrolle
Das Sozialprestige der Lehrer in Finnland ist sehr hoch. Die Eltern, aber auch die Behörden vertrauen darauf, dass sie gut ausgebildete Lehrer haben, die ihr Handwerk verstehen. Lehrer zu werden ist in Finnland eine Auszeichnung. Nur zehn Prozent der Bewerber werden zu einem Lehramtsstudium zugelassen. Die Schulinspektion, wie sie gerade in Deutschland wieder verstärkt eingeführt wird, ist in Finnland bereits 1995 abgeschafft worden. Das heißt nicht, dass jede Schule unkontrolliert vor sich hin werkeln darf. Den Schulen wird ein vielfältiges Evaluationsinstrumentarium zur Verfügung gestellt, mit dem sie selbst feststellen können, an welcher Stelle Entwicklungsbedarf vorliegt.
Beispielsweise führt die DS Helsinki jedes Jahr die STAKES-Befragung in dem 8. Und 9. Jahrgang durch. Die Befragung wird vom Sozial- und Gesundheitsministerium durchgeführt und den Schulen die eigenen und Vergleichswerte der Schulen in Helsinki zur Verfügung gestellt. Mithilfe der Umfrage erwirbt die Schule umfassende Kenntnisse über das Leben und Fühlen der Schüler, in und außerhalb der Schule. Abgefragt werden Ernährungsgewohnheiten, Erfahrungen mit Drogen und Suchtmitteln, Zufriedenheit mit Elternhaus und Schule, Stress mit Hausaufgaben. Entwicklungsschwerpunkte und Erfordernisse können auf der Grundlage der Untersuchung so gemeinsam mit Schülern, Eltern und Lehrern diskutiert und Veränderungen eingeleitet werden. Zur Autonomie der Schule gehört natürlich auch, dass sie ihr Personal selbst aussuchen und einstellen kann. Dies ist zwar viel Arbeit für die einzelnen Schulen, sorgt aber auf lange Sicht für Zufriedenheit aufseiten der Schule und der Mitarbeiter, da sich jeweils die richtigen Partner gewählt und gefunden haben.
Gemeinsam lernen – gemeinsam lehren
Bereits Anfang der 70iger Jahre ist die grundbildende Gemeinschaftschule in Finnland eingeführt worden. Das heißt, alle Kinder gehen gemeinsam in eine Schule bis einschließlich zur neunten Klasse. Innerhalb der Klassen sind die Niveaukurse ebenfalls abgeschafft worden. Diese bewusste Entscheidung für das Lernen in heterogenen Gruppen hat für das Lehren und Lernen natürlich erheblich Konsequenzen. Damit aber die Lehrer mit den Aufgaben des Unterrichtens in heterogenen Lerngruppen nicht überfordert sind, gibt es ein System des Stützens und Helfens. An der DSH unterstützt die Schülerberatungsgruppe, bestehend aus der Grundschulleiterin, der finnischen Schulleiterin, der Psychologin, den beiden Sonderpädagogen sowie der Sozialarbeiterin und bei Bedarf der Gesundheitsfürsorgerin die Lehrer. Regelmäßig werden die Klassenleitungen eingeladen, mögliche Probleme besprochen und gemeinsame Strategien entwickelt. Auch die Schüler können jederzeit mit den Sozialarbeitern, der Psychologin und der Gesundheitsfürsorgerin sprechen, da sie ganztägig an der Schule arbeiten.
Probleme werden fachgerecht und schnell gelöst
Praktisch bedeutet das Folgendes: Ich unterrichtete in einer dritten Klasse Deutsch für Anfänger. Ich hatte eine Schülerin, bei der ich mir unsicher war, ob sie vielleicht Legasthenikerin sein könnte. Also bat ich die Sonderpädagogin mit sprachheilpädagogischer Ausbildung um Hilfe. Sie testete die Schülerin und stellte fest, dass sie keine Legasthenikerin sei, aber trotzdem spezieller Förderung bedürfe, um fehlende Kenntnisse im Schriftspracherwerb nachzuholen. Dafür entwickelte sie ein Programm und arbeitete zwei Mal in der Woche parallel zu meinem Deutschunterricht mit dem Kind, bis es dieses Defizit aufgeholt hatte. So werden Probleme für alle Beteiligten fachgerecht, ohne großen zeitlichen Aufwand für die Eltern und Lehrer, innerhalb des Schulhauses gelöst.
Die Schüler selbst erleben sich dabei selbst oft nicht als defizitär oder problematisch, da die gesamte Unterstützungsmaßnahme im Rahmen der Klasse und des normalen Unterrichtes bleibt. Zu diesem umfassenden Stützsystem gehören auch die Klassenassistenten. In verschiedenen Grundschulklassen arbeiten Assistenten, die zusätzlich zum Lehrer in der Klasse sind und mit einzelnen Schülern, auf Anweisung der Lehrer vertiefende Übungen machen oder auch mit Kleingruppen zugewiesen Aufgaben erledigen. Dies fordert vom Lehrer zunächst ein größeres Engagement, da er nun immer auch überlegen muss, welche Aufgaben der Assistent übertragen bekommt, aber nach einiger Zeit ist das gemeinsame Arbeiten eingespielt und der Lehrer wird deutlich entlastet.
Stützunterricht – Aufgabe der Schule
Sollte ein Schüler trotz der verschiedenen oben beschriebenen Maßnahmen noch individuellen Stützunterricht benötigen, so wird dieser von der Schule organisiert. Es gibt eine Lehrerin, die diesen Unterricht koordiniert. Sie hat einen Pool von Nachhilfelehrern, die in allen benötigten Fächern die Schüler unterstützen können. In Absprache mit den Lehrern bekommen die Schüler zunächst nach dem Unterricht eine gewisse Anzahl von Stunden, um ihre Defizite aufzuholen. Neben dieser ganz individuellen Förderung bietet die DS Helsinki seit diesem Schuljahr vier Mal in der Woche Fachwerkstätten an, in denen die Schüler mit Hilfe von Abiturienten Deutsch und Mathematik üben können. Diese organisierte Nachhilfe ist keine Besonderheit der Deutschen Schule, sondern finnisches Bildungsprinzip. Das zeigt sich schon daran, dass es in Finnland keine privaten Nachhilfeschulen gibt. Für sie gibt es keinen Markt, da die Schulen selbst diese Aufgabe übernehmen.
Zum Schluss: Das Geheimnis der finnischen Bildung
Etliche Bildungsreisende, die zuvor in finnischen Schulen hospitiert haben, sind verstört. Der Unterricht sah ganz normal aus, teilweise habe es sogar wie Frontalunterricht gewirkt, der Lehrer habe stark auf sich zentriert gearbeitet. Auffällig sei allerdings die Ruhe in der Schule gewesen, die Schüler hätten alle recht gelassen gewirkt. So oder ähnlich erstaunt berichten uns die Bildungsreisenden und auch wir haben bei Besuchen in finnischen Schulen diese Erfahrung gemacht. So liegt dann das Geheimnis der finnischen Bildung nicht dort, wo es die deutsche Didaktik und Bildungsforschung seit Jahren sucht: in speziellen Unterrichtssituationen, Gruppenarbeits- oder kooperativen Lernformen.
Die Kenntnis von schülerorientierten Unterrichtsmethoden ist das Handwerkszeug, welches jeder Lehrer beherrschen und perfektionieren sollte. Aber ohne ein vernünftiges System, das den Kern der Bildung, die Beziehung von Lehrern und Schülern, im Blick hat, ist jede noch so schöne neue Methode bald abgenutzt und die Suche nach der nun wirklich optimalen Methode geht weiter. Das Geheimnis des finnischen Erfolges ist die Summe all der beschriebenen Maßnahmen. Es gibt keine spezielle finnische Unterrichtsmethode, das finnische Bildungssystem als solches ist die Erklärung für den Bildungserfolg.Wenn man kein Kind zurücklassen will, muss man auch die Lehrer mitnehmen, ihnen mit Wertschätzung und Vertrauen begegnen und ihnen mit Rat, Personal und Ressourcen zur Seite stehen.
(Der Beitrag ist in ähnlicher Form erschienen in: Domisch/Klein: Niemand wird zurückgelassen. Eine Schule für alle. Hanser 2012, S. 209ff)