Zum Inhalt springen

Shell Jugendstudie

Mehrheit tolerant und optimistisch

Die aktuelle Shell Jugendstudie stellt fest: Es gibt keinen Rechtsruck unter den jungen Menschen in Deutschland. Sie machen sich zwar durchaus Sorgen, blicken aber überwiegend zuversichtlich in die Zukunft.

Die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland vertraut weiterhin in den Staat und lebt Werte wie die Toleranz. (Foto: Colourbox.de)

Das Erstaunen war groß, als die AfD bei der Europawahl im Sommer vor allem unter jungen Erwachsenen viele Stimmen dazugewinnen konnte – ein Trend, der sich bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg fortsetzte. Noch vor Kurzem gingen junge Menschen massenhaft für Fridays for Future und Klimaschutz auf die Straße. Schwenken sie nun in großer Zahl nach rechts? 

Großes Vertrauen in den Staat und in die Politik

Die aktuelle Shell Jugendstudie kann beruhigen: Die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland vertraut weiterhin in den Staat und lebt Werte wie die Toleranz. Die Langzeitstudie blickt alle vier bis fünf Jahre auf die Lebenswelten und Einstellungen junger Menschen. Sie beleuchtet Themen wie Familie, Arbeit, Medien und politische Ansichten. Für die 19. Shell Jugendstudie wurden 2.509 repräsentativ ausgewählte 12- bis 25-Jährige befragt. Ein Fazit der Studie: Das Vertrauen der jungen Menschen in staatliche Institutionen und in das politische System bleibt hoch und ist in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gewachsen. Drei Viertel der Befragten sind mit der Demokratie „eher“ oder sogar „sehr zufrieden“. Es gibt allerdings ein Ost-West-Gefälle: In Westdeutschland machten 77 Prozent diese Angabe, in Ostdeutschland nur 60 Prozent. Dieser Unterschied ist allerdings bereits aus vorherigen Studien bekannt.

„Die verdrossenen und unzufriedenen Jugendlichen prägen aber keinesfalls die ganze Generation.“ (Prof. Mathias Albert)

Die letzte Shell Jugendstudie erschien 2019. Seitdem ist die Welt krisenhafter und kriegerischer geworden. „Wir sehen einen beachtlichen Anteil an verdrossenen Jugendlichen, insgesamt rund 12 Prozent", sagt Studienleiter Mathias Albert, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld. „Daneben gibt es einen erheblichen Anteil kritischer und unzufriedener Jugendlicher.“ Diese seien kritisch gegenüber dem Staat und der Gesellschaft eingestellt und empfänglich für Populismus. „Die verdrossenen und unzufriedenen Jugendlichen prägen aber keinesfalls die ganze Generation.“

Kein Rechtsruck, aber …

Einen Rechtsruck unter jungen Menschen kann die Studie daher nicht feststellen. Im Durchschnitt positionieren sich die Befragten politisch leicht links von der Mitte. Abweichend davon ist aber die politische Entwicklung bei männlichen Jugendlichen: Von ihnen ordnen sich heute 25 Prozent als „rechts“ oder „eher rechts“ ein – vor fünf Jahren waren es noch 16 Prozent. Allerdings: „Im Vergleich zu 2015 oder 2010 gibt es keinen Anstieg“, erklärt Studienleiter Mathias Albert, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld, bei der Präsentation der Studie. „2019 gab es einen Rückgang, jetzt gibt es einen Wiederanstieg, der einen bestimmten Grad von Verdrossenheit eines bestimmten Segmentes der Jugend ausdrückt. Und was wir jetzt sehen, ist, dass diese politische Positionierung sich stärker in politische Artikulation übersetzt, inklusive des entsprechenden Wahlverhaltens.“ 

„Junge Frauen haben die progressiveren Werte“ (Prof. Gudrun Quenzel)

Bei jungen Frauen zeigt sich wiederum eine Zunahme derjenigen, die sich eher als links sehen. Co-Autorin Gudrun Quenzel, Professorin am Institut für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Österreich, stellt fest, dass junge Männer deshalb nach rechts tendieren, weil sie anders als junge Frauen auf die zunehmende Komplexität der Welt und auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren. „Junge Frauen haben die progressiveren Werte“, sagt sie. „Sie investieren in Bildung und kommen mit Pluralismus gut klar. Junge Männer haben das Gefühl, in der Transformation zu verlieren, weil sie nicht so stark in Bildung investiert haben.“

Auftrag an die Politik und die Schulen

Allerdings stimmen der Studie zufolge mehr junge Menschen als noch vor fünf Jahren autokratisch-autoritären Positionen zu. Darauf Bezug nehmend sagte Lisa Paus (Grüne), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, auf der Pressekonferenz: „Das ist ein klarer Auftrag an die Politik, dass wir die politische Bildung stärken sollten. Demokratie ist nicht einfach da, sondern muss von jeder und jedem neu erlernt und vor allem erlebt und mit Leben gefüllt werden.“ 

 „Deswegen ist es wichtig, dass wir mehr Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse junger Menschen richten, dass wir ihnen zuhören, dass wir sie ernst nehmen, dass wir sie stärker beteiligen." (Lisa Paus)

Die Politik sollte das Vertrauen der jungen Menschen in Staat und Gesellschaft nicht enttäuschen, so Paus weiter. „Deswegen ist es wichtig, dass wir mehr Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse junger Menschen richten, dass wir ihnen zuhören, dass wir sie ernst nehmen, dass wir sie stärker beteiligen. Der Erhalt der Zuversicht funktioniert nur dadurch, dass wir eine verlässliche Politik für junge Menschen machen.“

Dass die junge Generation durchaus offen für solche Ansprachen ist, zeigt ein anderes Ergebnis der Studie: Die Hälfte der jungen Menschen ist politisch interessiert – ein Anstieg gegenüber den vorherigen Studien. Auch ist sie mit Quoten von 80 bis 95 Prozent ausgesprochen tolerant gegenüber verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen oder Minderheiten. Und 90 Prozent der jungen Menschen wünschen sich, dass in der Schule unterrichtet wird, wie man mit digitalen Medien umgeht und zum Beispiel lernt, Fake News zu erkennen. 

Ost-West-Unterschiede

Doch die Jugendlichen plagen auch Sorgen. Am meisten fürchten sie einen Krieg in Europa. Das gaben 81 Prozent der Befragten an. 67 Prozent haben Angst vor Armut und rund zwei Drittel vor Klimawandel und Umweltverschmutzung. Fast genauso viele sorgen sich vor wachsender zwischenmenschlicher Feindseligkeit und sozialer Ungleichheit. Die Angst vor Ausländerfeindlichkeit ist mit 58 Prozent höher als die vor der Zuwanderung nach Deutschland. Mit 34 Prozent ist dieser Wert ungefähr so hoch wie 2019. Doch auch hier gibt es einen Ost-West-Unterschied: Junge Ostdeutsche machen sich häufiger und stärker Sorgen als junge Westdeutsche. Stark abgenommen hat die Angst vor Arbeitslosigkeit oder davor, keinen Ausbildungsplatz zu finden. „Ein historischer Tiefstand“, sagt Politikwissenschaftler Albert. 

Ein sicherer Arbeitsplatz ist den meisten jungen Menschen wichtig. Das gaben 91 Prozent an. Fast genauso wichtig ist ihnen eine Arbeit, die sie sinnvoll finden sowie das Gefühl zu haben, etwas zu leisten. Auch genügend Freizeit rangiert bei den Erwartungen an den Beruf weiterhin oben. Etwas mehr Befragte als noch vor fünf Jahren möchten ein hohes Einkommen und gute Aufstiegsmöglichkeiten. 

Die Hälfte der jungen Männer bevorzugt immer noch das Modell des Mannes als Hauptversorger. Gleichzeitig wünschen sich mehr als vor fünf Jahren, in Teilzeit zu arbeiten, wenn sie einmal Kinder haben: 42 Prozent findet eine 30-Stunden-Woche für einen Vater attraktiver als eine Vollzeitstelle – sogar ein Prozent mehr als bei den jungen Frauen. Überhaupt glauben 84 Prozent der jungen Menschen, ihre beruflichen Wünsche verwirklichen zu können. „Sie wissen, dass der demographische Wandel ihnen in die Hände spielt“, sagt Studienleiter Albert.