Seit dem sogenannten PISA-Schock stehen die Leseförderung sowie die Stärkung des mathematischen Verständnisses und der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) im Fokus der Bildungspolitik. In den Hintergrund geraten sind die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, die (inter-)kulturelle Bildung, Kunst und Musik. Politische Bildung führt seitdem ein Schattendasein und muss wieder ins Licht gerückt werden. Im März 2015 riefen die Bildungsminister*innen der Europäischen Union in ihrer „Pariser Erklärung“ zur Förderung der politischen Bildung und der gemeinsamen Werte Freiheit, Toleranz und Nichtdiskriminierung auf. Die Kultusministerkonferenz erneuerte im Oktober 2018 ihre Beschlüsse zur Demokratie- und Menschenrechtsbildung.
Die Anforderungen an Schule und damit die Lehrkräfte sind hoch. In allen Schulgesetzen sind die Bildungsziele zwar jeweils etwas unterschiedlich, aber umfassend verankert: Zum Bildungsauftrag gehört, die Schülerinnen und Schüler zum selbstbestimmten Denken und Handeln zu befähigen, sie sollen ihre Verantwortung für sich und die Gesellschaft wahrnehmen und sich dabei von den Werten des Grundgesetzes und den Menschenrechten leiten lassen. Gemessen an diesen Zielen müsste die Demokratieerziehung als Unterrichtsprinzip eine herausragende Rolle in Studium und Vorbereitungsdienst erhalten.
Das ist aber nicht so. Skandalös hoch ist der in der Schule fachfremd erteilte Politikunterricht. In den erforschten Bundesländern liegt er in Gymnasien bei gut 30 Prozent, in den Haupt- und Realschulen bzw. Schulen des gemeinsamen Lernens – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – sogar bei 70 bis über 80 Prozent.
Kinder und Jugendliche zu befähigen, selbstbestimmt an der Entwicklung der Gesellschaft teilzuhaben, ist der Grundstein für gelebte Demokratie.
„17 Minuten Politikunterricht, 20 Sekunden Redezeit für die Schülerinnen und Schüler pro Woche“, diesen erschreckend geringen Umfang gezielten Politikunterrichts hat Professor Reinhold Hedtke von der Universität Bielefeld in einer Studie zum Politikunterricht in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen festgestellt. Diese Daten gelten jedoch nicht nur für dieses Bundesland. Konfrontiert mit der Vernachlässigung des Politikunterrichts und um das „Demokratie lernen und leben“ in den Blick zu rücken, unterstützte die GEW im Oktober 2018 eine Fachtagung, zu der fast 100 Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland kamen: Wissenschaftler*innen, Didaktiker*innen der politischen Bildung an den Universitäten, Mitarbeiter*innen aus Studienseminaren, Lehrer*innen sowie Vertreter*innen der gewerkschaftlichen und non-formalen Bildung.
Die Fachleute schlugen Alarm und formulierten von dieser Tagung ausgehend die Hofgeismarer Erklärung „Wann, wenn nicht jetzt?“. Der den Gewerkschaften verbundene Soziologe Oskar Negt bringt es auf den Punkt: „Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsform, die gelernt werden muss!“ Die Gesellschaft will, dass in den Schulen Demokrat*innen erzogen und gebildet werden, die die Wirklichkeit kritisch hinterfragen und sich einmischen, wenn Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und Umwelt gefährdet sind. Gegenwärtig müssen wir mit Blick auf diese wichtige Aufgabe von schwerwiegenden Versäumnissen mit entsprechenden Folgen sprechen.
Auf Grundlage der Hofgeismarer Erklärung will die GEW einen Diskussionsprozess über Demokratielernen und Politikunterricht anstoßen. Wir wollen und können die Erzieher*innen und Lehrer*innen nicht allein lassen. Wir werden die für Bildungspolitik zuständigen Abgeordneten darauf hinweisen, dass Anspruch und Praxis immer weiter auseinander driften – und wir dieses Problem dringend lösen müssen. Kinder und Jugendliche zu befähigen, selbstbestimmt an der Entwicklung der Gesellschaft teilzuhaben, ist der Grundstein für gelebte Demokratie. Demokratieerziehung und Politikunterricht brauchen einen deutlich höheren Stellenwert!