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Coronapandemie

Mehr Nähe auf Distanz

Sieben Schulen sind für ihre Lernkonzepte während der Corona-Pandemie mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. Eines verbindet alle: eine gelungene Mischung aus persönlicher Zuwendung und guten digitalen Lösungen.

Den Lehrkräften an der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr war es während des Lockdowns wichtig, die Struktur des Schulalltags zu erhalten. Mit der Mischung aus persönlicher Betreuung und einem guten digitalen Konzept hat die Schule die Jury des Deutschen Schulpreises überzeugt. (Foto: Stefan Kochert/Deutscher Schulpreis)

Manchmal in dieser seltsamen Zeit des Lockdowns haben die Lehrkräfte der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr die Kinder abends zusammengetrommelt. Die Eltern waren beauftragt, für heißen Kakao und einen Schlafanzug zu sorgen. Als es dunkel wurde, trafen sich Dutzende kleiner Grundschülerinnen und -schüler im blauen Licht ihrer Laptops. Dann ging es los: mit dem digitalen Leseabend.

„Ob wir in der Krise die Lerneinheit über die Tulpe durchbekommen oder nicht, ist für die Kinder doch völlig unwichtig. Ob wir sie mit Schule weiter erreichen und wirklich Lernen ermöglichen, dagegen zentral.“ (Nicola Küppers)

„In der Pandemie war es für uns das Wichtigste, die Beziehung zu den Kindern und unsere Verantwortung für ihre Lernprozesse aufrecht zu erhalten“, sagt Schulleiterin Nicola Küppers. Der Stoff war zunächst zweitrangig. „Ob wir in der Krise die Lerneinheit über die Tulpe durchbekommen oder nicht, ist für die Kinder doch völlig unwichtig. Ob wir sie mit Schule weiter erreichen und wirklich Lernen ermöglichen, dagegen zentral.“ Gerade für ihre Schülerinnen und Schüler in dem benachteiligten Viertel der Stadt, in dem Chancengleichheit jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung ist.

Gemeinsames Konzept für Lernen auf Distanz

Als der erste Lockdown kam, fuhr Küppers daher eine klare Linie: Sie führte neben Online-Leseabenden ein digitales Schülerparlament und eine „digitale Freundschaftsbank“ zur Unterstützung trauriger Kinder ein. Sie verbot Arbeitsblätter für zu Hause, installierte stattdessen eine digitale Plattform für Erklärvideos und Feedback-Chatrooms und schickte die Kolleginnen und Kollegen erstmal drei Wochen in eine Digital-Fortbildung. Gemeinsam entwickelten sie ein Konzept für das Lernen auf Distanz, bereiteten den gesamten Unterrichtsstoff fürs Selbstlernen online auf.

Ein Mix aus gemeinsamem Morgenkreis, individuellen Lernphasen, Zwischenreflexionen und nachmittäglichen Online-Ausflügen, zum Beispiel in die Zoos auf der ganzen Welt. Eine Besonderheit: Einige Lehrkräfte blieben den ganzen Tag live im digitalen Klassenzimmer sitzen, jederzeit per Video sichtbar und bereit für Nachfragen. „Wir waren näher aneinander als vorher“, sagt Küppers, „und haben allen Schülerinnen und Schülern individuelles Lernen auch in der Pandemie ermöglicht.“

Die Grundschule am Dichterviertel ist eine der sieben Schulen, die 2021 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurden. „Wir wollten damit innovative Konzepte sichtbar machen, die Schulen im Umgang mit der Corona-Krise auf die Beine gestellt oder weiterentwickelt haben“, so Andrea Preußker von der Robert-Bosch-Stiftung, die den Preis vergibt. 366 Einsendungen wurden analysiert, sieben Themenfelder ausfindig gemacht, mit denen sich die Schulen während der Pandemie besonders beschäftigt hatten. Deshalb gab es in diesem Jahr zum ersten Mal in der Geschichte des Schulpreises mehrere Gewinnerinnen: Das beste Konzept für jedes Feld wurde prämiert.

  • Netzwerke knüpfen: Evangelisches Gymnasium, Nordhorn

Kooperationen mit Universitäten oder Sportvereinen, Andachten per Webkonferenz. Als Ausgleich gab es soziales Engagement mit Abstand: von Balkonkonzerten für Altenheime bis zum Einkaufsservice für Ältere.

  • Individuell fördern: Mosaikschule, Förderschule, Marburg

Zugeschnitten auf die individuellen Förderpläne wurden Form des Lernens und Begleitung der Kinder festgelegt. Klare Regeln, Rituale und Strukturen gaben Halt.

  • Digitale Lösungen umsetzen: Integrierte Gesamtschule, Lengede

Großer digitaler Werkzeugkasten, Zugriff auf alle Funktionen und Inhalte eines zentralen digitalen Lernmanagementsystems mit individuellem Passwort und jedem marktüblichen Endgerät.

  • Bildungsgerechtigkeit fördern: Grundschule am Dichterviertel, Mülheim an der Ruhr

Arbeitsblätter waren im Lockdown verboten. Stattdessen setzte die Schule auf persönliche Begleitung: Videokontakt, Erklärvideos, digitalen Sendeplan mit Morgenkreis, English-Time und Online-Leseabende im Schlafanzug.

  • Zusammenarbeit in Teams stärken: Städtische Gesamtschule Körnerplatz, Duisburg

Gemeinsam Ressourcen nutzen, Neues ausprobieren. Eine ausgefeilte Teamstruktur der Lehrkräfte erleichterte die Zusammenarbeit und den offenen Austausch über den richtigen Weg. Das setzte sich im kooperativen Lernen der Schülerinnen und Schüler fort.

  • Selbstorganisiertes Lernen ermöglichen: Städtische Gesamtschule, Münster-Mitte

Aus Lernbüros und Tischgruppen wurden virtuelle Systeme, Lernpläne und Projektaufgaben. Eine digitale Lernlandschaft, geprägt von Eigenverantwortung und einem Mix aus Distanz- und Präsenzphasen, trug die Schülerinnen und Schüler durch die Krise.

  • Beziehungen gestalten: Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg, Hamburg-Dulsberg

„Be part“ nennt sich das Konzept, das in allen Facetten der Schul- und Unterrichtsgestaltung im Lockdown oberste Leitschnur blieb. Partizipation, Miteinander und digitale Strukturen machten Schule zur Heimat, zum Beispiel mit der Videoshow „Dulsberg late Night“ oder dem Schulessen to go.         

Weniger Klassenarbeiten, mehr Projektarbeit

Wie können wir die soziale Arbeit an der Schule unter Corona-Bedingungen weiterführen und unsere Netzwerke stärken? Das hatten sich Gabi Obst und ihr Team am Evangelischen Gymnasium Nordhorn gefragt. Zum Beispiel für das sozialdiakonische Praktikum, für das die Neuntklässler des Gymnasiums ein Jahr lang in Altenheime, Flüchtlingscafés oder zur Tafel gehen. Schnell waren gefunden: Balkonkonzerte vor den Altenheimen und Einkaufsservice, Weihnachtspäckchen schicken und Hunde ausführen. „Anderes haben wir digital organisiert“, sagt Schulleiterin Obst. Die Lernhilfe älterer für jüngere Schülerinnen und Schüler lief ebenso über die Online-Plattform i-surf wie die Montagsandachten mit Pfarrern der Region. Obst: „Da standen dann Eltern und Kinder zu Hause gemeinsam vor dem Bildschirm.“

„Für uns war die Pandemie ein Zukunftsbeschleuniger.“ (Gabi Obst)

Eine „Taskforce Unterricht“ feilte an Konzepten für Online-Stunden und Leistungsbewertung. Weniger Unterrichtsgespräche, mehr kleine Impulse; weniger Klassenarbeiten, mehr Exposés und Projektarbeit. Das Digitale schuf neue Verbindungen: Ein Trainer des ehemaligen Bundesligavereins HSG Nordhorn gab Online-Handballsessions, Schülerinnen und Schüler legten sich im Wohnzimmer Wurflinien mit Eierkartons nach. Und wie hätte die Schule am nordwestlichen Rand der Republik ohne den neuen Online-Kick Professoren der Universität Osnabrück, eine Rabbinerin aus Berlin oder das Jungunternehmerteam des Startups Agrolution im Unterricht begrüßen können? Obst: „Für uns war die Pandemie ein Zukunftsbeschleuniger.“

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

Auf diese Zukunft hat sich die Integrierte Gesamtschule (IGS) Lengede schon seit 2017 vorbereitet. „Als der Lockdown kam, war unser Digitalisierungskonzept gerade perfekt fertig geworden“, sagt Schulleiter Jan-Peter Braun. Innerhalb von zwei Tagen nach Beginn des Lockdowns war die komplette Schulgemeinschaft online: in einer digitalen Lernumgebung, die jedem der Schulgemeinschaft vom Hausmeister über Lehrkräfte und Eltern bis zu den Fünftklässlern mit einem individuellem Passwort Zugang zur kompletten Lernmanagementplattform ermöglicht. „Alles browserbasiert, damit sich die Schülerinnen und Schüler mit jedem beliebigen Endgerät einwählen können.“

So einfach wie möglich

Monatelang hatte die Schulgemeinschaft vorab an Kriterien für den digitalen Unterricht gefeilt, die Online-Plattform konnten die Lehrkräfte jedes Jahrgangs selbst auswählen. „So stand jeder in der Verantwortung“, sagt Braun. Tatsächlich wählten alle das gleiche System: Itslearning, eine einfache Oberfläche mit Videos, Wochenplänen und Feedbackchats, auf der ein Dutzend unterschiedliche Textverarbeitungsprogramme, Meetingtools und Cloud-Anwendungen laufen. In der Oberstufe bewährten sich lange Videovorlesungen als Übung für die Uni, in der Unterstufe kamen kurze Videobegrüßungen für den Start in den Tag gut an. „Unsere Strategie: So einfach wie möglich, so viel wie nötig“, so Braun. Minimale Steuerung, minimale Vorgaben. „Dann kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren: die optimale Gestaltung der Lernprozesse.“