Reform des Ganztags
„Mehr Chancengleichheit gibt es nur mit der Ganztagsschule“
In der aktuellen Ausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift DDS – Die Deutsche Schule der GEW gehen Prof. Nicole Zaruba, Prof. Raphaela Porsch und Prof. Falk Radisch der Frage nach, welche Rolle die Schulaufsicht bei der Ganztagsschulreform spielt.
Im Interview mit E&W erläutern Porsch und Zaruba die zentralen Befunde.
- E&W: Für das Projekt „Beratende Schulaufsicht“ (BeSa) haben Sie zwölf Mitarbeitende der Schulaufsicht in Deutschland zu deren Einstellungen zum und Rolle beim Ganztag interviewt. Gab es Punkte, bei denen alle Interviewten übereinstimmten?
Prof. Raphaela Porsch: Da wir keine repräsentative quantitative Studie durchgeführt haben, ist es schwierig, Aussagen vereinheitlichend zusammenzufassen. Was sich aber sagen lässt, ist, dass es Sichtweisen gibt, die sich ähneln. Übereinstimmend wurde gesagt, dass der Ganztag ausreichend mit personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet sein muss und es ein abgestimmtes pädagogisches Konzept braucht, um das Modell erfolgreich an einer Einzelschule umzusetzen.
- E&W: Welche Probleme bei der Einführung des Ganztags haben die Interviewten benannt?
Prof. Nicole Zaruba: Die Befragten haben vor allem die fehlenden personellen und räumlichen Ressourcen angesprochen. Einige haben auch organisatorische Probleme bei der Umsetzung des Ganztags benannt. Zum Beispiel, dass Lehrkräfte nicht im Ganztag tätig werden dürfen, dass Schulleitungen teilweise kein eigenes Budget für Ganztagsangebote zur Verfügung haben und dass Ganztagsangebote von schulischen Angeboten organisatorisch getrennt sind. Das konterkariert die Idee des gebundenen Ganztags.
- E&W: Ganztagsschulen gibt es in offener und gebundener Form. In ersterer ist die Teilnahme an den Nachmittagsangeboten, die oft nur Betreuungscharakter -haben, freiwillig. Für welche der beiden Formen sprachen sich die befragten Mitarbeitenden der Schulaufsicht aus?
Zaruba: Eindeutig für die gebundene Ganztagsschule, bei der Vormittag und Nachmittag miteinander verzahnt sind, weil so neben einer Betreuung auch die individuelle Förderung einer heterogenen Schülerschaft möglich wird. Das ist ein zentrales Ziel der Ganztagsreform, um Chancengleichheit zu fördern. Die Trennung von Schule am Vormittag und Betreuung am Nachmittag in der offenen Ganztagsschule ist da eher hinderlich.
- E&W: Eine der interviewten Personen stellte die Sinnhaftigkeit des Ganztags an Gymnasien in Frage. Weist das Ihrer Ansicht nach darauf hin, dass an Gymnasien die Skepsis gegenüber einer ganztägigen Beschulung besonders verbreitet ist?
Porsch: Man kann eine Sichtweise nicht generalisieren. Dennoch sollte man diese Aussage ernst nehmen. Wir wissen aus anderen Studien, dass es bei Lehrkräften, Schulleitungen, der Schulaufsicht, aber auch bei Eltern Bedenken gegenüber der Ganztagsschule gibt – und dies übrigens nicht nur am Gymnasium.
- E&W: Ganztagsschulen wurden Anfang der 2000er-Jahre als Reaktion auf das schlechte Abschneiden des deutschen Schulsystems bei der ersten PISA-Studie ausgebaut. Auch mehr als 20 Jahre später gibt es aber noch kein flächendeckendes, qualitativ gutes Angebot. Welche Verantwortung trägt die Politik dafür?
Zaruba: Politik muss für gute Rahmenbedingungen, eine gute sächliche, personelle und finanzielle Ausstattung der Ganztagsschulen sorgen. Dazu gehört auch die klare Aussage, dass diese Organisation von Schule den Bedürfnissen aller Schülerinnen und Schüler am besten entspricht. Ganztag wird derzeit aber sehr heterogen umgesetzt. Zum Teil stehen familienpolitische Ziele im Vordergrund, bei denen der Fokus bei der Organisation des Ganztags auf Betreuungsangeboten und Freizeitgestaltung am Nachmittag liegt. Wir brauchen aber eine Ganztagsschule, die Kinder mit individuell geeigneten pädagogischen Konzepten fördert. Das geht nur mit Beteiligung und Mitarbeit der Lehrkräfte über den Vormittag hinaus.
- E&W: Die Schulaufsicht befindet sich an der Schnittstelle zwischen Bildungsadministration und Schulleitung. Die Befragten schreiben sich bei der Umsetzung der Ganztagsschulreform allerdings eine eher untergeordnete Rolle zu. Wie erklären Sie sich das?
Porsch: Die Schulaufsicht hat neben ihrer Aufsichtsrolle die Aufgabe, Schulen und Schulleitungen beratend zu unterstützen. In den Interviews wurde deutlich, dass die Schulaufsicht in der Regel für viele Schulen zuständig ist und sich eher in einer beratenden Funktion sieht. Insofern haben uns diese Aussagen nicht verwundert. Insgesamt sprechen die Befragten von einer gemeinsamen Verantwortung, bei der die Schulleitung für die Einzelschule die Hauptverantwortung für die konkrete Umsetzung des Ganztags trägt, die Schulaufsicht den Prozess beratend begleitet und die Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen beaufsichtigt.
- E&W: Welche Rolle spielt der Bildungsföderalismus bei der Umsetzung der Ganztagsschule in Deutschland?
Porsch: Der Bildungsföderalismus ist nicht nur eine deutsche Besonderheit; es gibt ihn auch in Österreich und der Schweiz. Das hat durchaus Vorteile, weil durch ihn auf historisch gewachsene regionale Besonderheiten eingegangen werden kann und sich spezifische Lösungen finden lassen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob es bei einem solch großen bildungspolitischen Vorhaben wie der Ganztagsschulreform sinnvoll ist, gemeinsame, einheitliche Strukturen zu schaffen, um zum Beispiel Ressourcen in der Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte effektiver einzusetzen.
- E&W: In Ihrem Beitrag für die DDS schreiben Sie, dass „erst wenige empirische Arbeiten zur Schulaufsicht im deutschsprachigen Raum vorliegen“. Wie erklären Sie sich das?
Porsch: Bislang wurden von der Bildungsforschung im Bereich Schulpädagogik andere Themen fokussiert, etwa die Aufgaben des Lehrberufs, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, in der jüngsten Vergangenheit auch die Rolle der Schulleitungen. Mit unserer BeSa-Studie wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass die Schulaufsicht sowie die Herausforderungen und Problemlagen, mit denen sie konfrontiert ist, eine größere Bedeutung bekommen und in der Folge die Bildungspolitik diese Fragen bearbeitet und die Schulaufsicht so weiter professionalisiert wird. Für die weitere Entwicklung beim Ausbau des Ganztagsschulsystems ist dies unbedingt erforderlich.