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Geflüchtete

Mehr als ein Jahr ohne Schule

In Deutschland werden Asylsuchende aus Afghanistan, der Ukraine oder anderen Staaten nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Dieses System entscheidet auch über Bildungschancen mit.

Manche Bundesländer setzen bei der Integration von jungen Geflüchteten auf Willkommensklassen, in anderen werden sie von Anfang an in Regelklassen unterrichtet. (Foto: IMAGO/Fotostand)

Wer als junger Mensch flieht, lässt nicht nur die Heimat zurück, sondern meist auch eine Bildungslaufbahn. Weil Jugendliche oft auf verworrenen Wegen flüchten, waren sie durchschnittlich mehr als ein halbes Jahr nicht in der Schule, wenn sie in Deutschland ankommen. Nun hat sich herausgestellt: Bis das hiesige Schulsystem sie aufnimmt, dauert es noch einmal ähnlich lange. „Statistisch vergehen vom Zeitpunkt ihrer Ankunft sieben Monate, bis junge Geflüchtete in einem Klassenzimmer sitzen“, erklärt Gisela Will vom Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi).

Mit Kolleginnen und Kollegen vom LIfBi sowie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat sie die Bildungswege geflüchteter 14- bis 16-Jähriger in fünf Bundesländern untersucht. Dabei stellte sich heraus: Die zugewanderten Schülerinnen und Schüler und deren Eltern haben wenig Einfluss auf den Start ihrer Bildungslaufbahn in Deutschland. Entscheidend sind hingegen zum einen organisatorische Themen, etwa die Frage von Schulplätzen, oder der Zeitpunkt des nächsten Schul- oder Halbjahresbeginns. „Aus Sicht der Schule ist es verständlich, auf diesen zu warten“, kommentiert Bildungssoziologin Will, „für die Jugendlichen jedoch zählt jeder Monat.“

„Manche Länder schulen deutlich schneller ein als andere.“ (Gisela Will)

Doch auch die Bundesländer entscheiden über die Startchancen mit. „Manche Länder schulen deutlich schneller ein als andere“, erklärt Will mit Blick auf Daten der ReGES-Studie (Refugees in the German Educational System), die fünf Länder mit ganz unterschiedlichen Regelungen im Blick hat: In Hamburg setzt die Schulpflicht nach der Ankunft ein, in Bayern nach drei Monaten. Nordrhein-Westfalen (NRW), Rheinland-Pfalz und Sachsen warten, bis die Menschen die Erstunterbringung verlassen konnten und einer Kommune zugewiesen wurden. Nach Beobachtung der Forscherinnen und Forscher kommen Jugendliche in Ländern, die bis zu dieser Zuweisung warten, bis zu zwei Monate später in die Schule als in Ländern, die die Schulpflicht davon losgelöst organisieren.

Seit 2018 werden 2.415 Kinder und Jugendliche im Rahmen der ReGES-Studie immer wieder zu ihrer Bildungslaufbahn befragt. Ausgewertet ist bisher nur die erste Fragerunde. Für die Zukunft hofft Will auch auf Erkenntnisse, was der Königsweg für einen erfolgreichen Start in Deutschland ist: getrennter Unterricht oder Integration in Regelklassen.

Unterschiede auch bei Schultypen

Für beide Modelle führen Verfechter Argumente ins Feld: Spezielle Willkommensklassen ermöglichen gezielten Sprachunterricht und können zu Beginn ein Schutzraum sein; Regelklassen erleichtern die Integration und das Miteinander. Die fünf Länder gehen auch hier ganz unterschiedliche Wege: In Hamburg kommen geflüchtete Jugendliche fast immer erst einmal in Neuzuwanderer-, in Rheinland-Pfalz fast immer in Regelklassen. In Bayern, NRW und Sachsen gibt es Mischformen. Hinzu kommen kombinierte Modelle. „Die Längsschnittsdaten werden hoffentlich Antwort darauf geben, für welche Jugendlichen welche Bildungsalternativen besonders geeignet sind“, erwartet Bildungsforscherin Will.

Unterschiede zwischen den Ländern gibt es auch bei den Schultypen, die für 14- bis 16-Jährige als die richtigen erachtet werden: In Hamburg, NRW und Rheinland-Pfalz werden die Jugendlichen über alle Schulformen verteilt, in Bayern und Sachsen sind Neuzuwandererklassen grundsätzlich an niedrigeren Schulformen angesiedelt. Die Folge: Als die Forscherinnen und Forscher zu ihrer ersten Befragungswelle aufbrachen, trafen sie in Bayern und Sachsen 16 Prozent weniger Jugendliche am Gymnasium an als in den drei anderen Ländern.

Weil die meisten bereits seit rund drei Jahren in Deutschland lebten, ist folgendes Szenario zumindest wahrscheinlich: Werden Jugendliche erst einmal in eine niedrigere Schulform eingeschult, kommen sie aus dieser nicht so leicht wieder heraus. „Die Daten legen das nahe“, sagt Will, „mit Sicherheit kann das aber erst der Verlauf zeigen.“ Insgesamt lernt die große Mehrheit der geflüchteten Jugendlichen an Haupt- oder Realschulen sowie Schulen, die beides kombinieren. Nur etwas mehr als jeder Fünfte (22 Prozent) besucht ein Gymnasium.