Coronapandemie
Masterplan für Bildung nötig
Der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge zieht in seinem Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ ein erstes Fazit aus zwei Jahren Pandemie. E&W veröffentlicht vorab einen redaktionell bearbeiteten Auszug.
Anfang April wurden die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie weitgehend beendet. Der Kölner Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge zieht in seinem neuen Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“, das am 18. Mai im Verlag Beltz Juventa erscheinen wird, ein erstes Fazit aus zwei Jahren Pandemie. E&W veröffentlicht nachfolgend vorab einen redaktionell bearbeiteten Auszug aus dem Kapitel „Konsequenzen für das deutsche Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitswesen“.
Selten wurde die im Gefolge der neoliberalen Hegemonie, das heißt der öffentlichen Meinungsführerschaft des Marktradikalismus seit der Jahrtausendwende, durch Begriffe wie „Eigenverantwortung“, „Selbstvorsorge“ und „Privatinitiative“ abgelöste Solidarität ähnlich häufig beschworen wie in der pandemischen Ausnahmesituation. Zwar gab es während der Pandemie auch Ansätze einer Repolitisierung von Solidarität, diese hielten sich jedoch in Grenzen. Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Religionsgemeinschaften erhoben zwar ihre Stimme, wenn es um die finanzielle Besserstellung von Transferleistungsbezieher(inne)n oder die fehlende staatliche Unterstützung für Wohnungs- und Obdachlose ging, ihre Rufe verhallten jedoch weitgehend ungehört.
Gerechtere Verteilung
Will man bestehende Ungleichheiten verringern, müssen die Einkommen und Vermögen, aber auch die Bildungschancen und die sozialen Leistungen des Staates gerechter unter den Gesellschaftsmitgliedern verteilt werden. Damit alle Menschen die gleichen Bildungschancen erhalten, müssen soziale Ungleichheiten möglichst schon in den Kindertagesstätten und Schulen – so gut es geht – ausgeglichen werden. Dazu bedarf es einer Schulstrukturreform, einer besseren Ausstattung dieser Bildungseinrichtungen, kleinerer Gruppen/Klassen mit hervorragend ausgebildeten Lehr- bzw. Fachkräften und einer regelmäßigen Fortbildung des Personals. Auch die Einstellung von mehr Schulsozialarbeiter(inne)n und -psycholog(inn)en könnte die soziale Benachteiligung der Kinder aus finanzschwachen Elternhäusern durch einen flächendeckenden Ausbau der individuellen Förderung, Beratung und Betreuung verringern.
Als sich die Covid-19-Pandemie in Deutschland ausbreitete, haben sich die Bildungseinrichtungen des Landes als „systemrelevant“ und im Kern als funktionstüchtig erwiesen. Sie brauchen neben einer besseren Sach- und Personalausstattung aber mehr Raum für soziales Lernen und demokratische Partizipation. Denn die Corona-Krise hat auch weniger Bildungsbeflissenen und Kinderlosen bewusst gemacht, dass Schulen nicht bloß Institutionen der Wissensvermittlung, sondern auch wichtige Lebensräume, Begegnungsorte und Kontaktbörsen junger Menschen jenseits des Unterrichtsalltags sind.
Lehrpläne entrümpeln
Kritische Erziehungswissenschaftler(innen) befürchten eine „Bildungskatastrophe“, wenn den entstandenen Lernrückständen nicht mit aller Macht begegnet wird. Die pandemische Notsituation, von der Schulen (und Hochschulen) wie kaum eine andere Institution durch Schließzeiten betroffen waren, hätten ein „verengtes Bildungsverständnis“ begünstigt, moniert der Augsburger Schulpädagoge Klaus Zierer.
Er fordert die Entrümpelung der Lehrpläne, damit Kinder und Jugendliche nicht bloß etwas lernen, sondern sich auch bilden können; die Gründung eines Bildungsrates, der mit Pädagog(inn)en besetzt ist, damit die jungen Menschen „Anwälte der Bildung“ erhalten; die Erhöhung der Investitionen in Hygienemaßnahmen an Schulen, damit Präsenzunterricht stattfinden kann; eine Digitalisierung der Schule mit Augenmaß, damit diese nicht zum „digitalen Mediengrab“ verkommt, sowie einen Masterplan für Bildung („Bildungsagenda 2050“), der mit einer wirksamen Schulentwicklung vor Ort verbunden sein muss, damit Kinder und Jugendliche die Schule als Lebensraum erfahren können.
Krisenfolgen abfedern
Neben der Bildungs- und Schulpolitik ist die Kinder- und Jugendpolitik gefordert, auch langfristige Krisenfolgen stärker abzufedern und vulnerablen Gruppen wie Minderjährigen sowie deren Familien (trotz klammer öffentlicher Kassen und massiver Verteilungskämpfe) mehr unterstützende und ausgleichende Angebote zu machen. Andernfalls hat die in vielerlei Hinsicht zerrissene junge Generation ebenso wenig eine rosige Zukunft wie die auseinanderdriftende Gesellschaft, in der sie lebt.
Nur wenn es gelingt, die den Familien, Kindern und Jugendlichen von der tiefen Pandemiekrise geschlagenen Wunden zu heilen und vereint mehr sozioökonomische Gleichheit zu schaffen, kann das Land hoffen, seine enorme Wirtschaftskraft und das Wohlstandsniveau der Bevölkerung auf Dauer zu erhalten.