Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit
„Man hätte das Verfahren einstellen müssen“
Ende Oktober wurden Mitarbeitende eines Karlsruher Fanprojekts zu Geldstrafen verurteilt. Nach einem Pyro-Eklat hatten sie sich geweigert, als Zeugen auszusagen. Der Soziologe und Sozialarbeitswissenschaftler Albert Scherr kritisiert das Urteil.
- Herr Scherr, Sie haben den Prozess vor Ort am Amtsgericht Karlsruhe verfolgt. Waren Sie über das harte Urteil überrascht?
Albert Scherr: Ich hatte von vornherein den Eindruck, dass der Staatsanwalt schon vor Abschluss der Beweisaufnahme sehr genau wusste, was er am Ende sagen würde. Er hat wenig mitnotiert, man hatte auch nicht das Gefühl, dass ihn die Plädoyers besonders interessieren. Schon dadurch, dass er in der Instanz zuvor ein Strafmaß von 120 Tagessätzen gefordert hatte, wurde deutlich, dass es ihm darum ging, ein Exempel zu statuieren.
- Er hat seine Forderung dann ja sogar auf 160 Tagessätze erhöht.
Scherr: Es sollte offensichtlich die ganze Härte des Gesetzes gezeigt werden. Der sehr einseitig als strafender Staat missverstandene Rechtsstaat wollte der Sozialen Arbeit zu verstehen geben, dass er keine Kompromisse machen will.
- Der Staatsanwalt war empört darüber, dass ihm in Presseveröffentlichungen unterstellt worden war, ihm fehle das Verständnis dafür, was Soziale Arbeit ausmacht.
Scherr: Ich habe im Verfahren nichts gehört, das darauf hingewiesen hätte, dass er die Soziale Arbeit geringschätzt. Allerdings war ich mir sowohl bei ihm als auch bei der Richterin nicht sicher, ob sie das Fanprojekt nicht als verlängerten Arm der Ultras sehen.
„Der Karlsruher Fall könnte eine Signalfunktion anderorts haben. Die Verlässlichkeit für die Soziale Arbeit wäre dann flächendeckend nicht mehr gegeben.“ (Albert Scherr)
- Inwiefern wäre ein akuraterer Blick auf die Soziale Arbeit wünschenswert gewesen?
Scherr: Die Justiz muss deren Aufgaben und Arbeitsbedingungen insofern im Blick haben, als sie bei der Schuldzumessung berücksichtigen muss, ob es legitime Motive für die Aussageverweigerung gab. Das ist nicht schlüssig erfolgt. Staatsanwaltschaft und Gericht argumentierten stattdessen strikt rechtspositivistisch: Gäbe es ein Zeugnisverweigerungsrecht (ZVR), säßen wir nicht hier. So aber müssen wir auf Basis der bestehenden Gesetze urteilen.
- Aus juristischer Sicht klingt das auch nicht unlogisch.
Scherr: Nein, aber selbst dann ist für mich – völlig unabhängig von der Debatte über das ZVR – schwer zu verstehen, warum das Verfahren nicht eingestellt wurde oder zumindest in ein ganz anderes Strafmaß mündete. Der Vorwurf der Strafvereitelung wurde auf den der Strafverzögerung reduziert, ein „öffentliches Interesse“ an der Strafverfolgung des Fanprojektes kann ich nicht erkennen, die „Geringfügigkeit“ der Schuld ist gegeben. Man hätte dieses Verfahren einstellen müssen.
„Seit dem Messerattentat von Solingen im August dieses Jahres haben wir eine massive Verschiebung der Debatte in Richtung einer strafrechtlich interpretierten Sicherheitsperspektive.“ (Albert Scherr)
- In einem Gutachten zum ZVR schreiben Sie, dass die Kommunikation zwischen Streetwork und Polizei meist gut funktioniert.
Scherr: Bei der Streetwork und in der mobilen Jugendarbeit ist es in der Regel so, dass die Polizei die Soziale Arbeit über Vorgänge informiert, die für ihre Arbeit relevant sind, dass sie aber akzeptiert, dass das umgekehrt nicht geht, weil die dann nicht weiterarbeiten können. Das Dramatische am Karlsruher Fall ist auch, dass dieser informelle Konsens einseitig aufgekündigt wurde. Das kann eine Signalfunktion anderorts haben. Die Verlässlichkeit für die Soziale Arbeit wäre dann flächendeckend nicht mehr gegeben.
- Vor zwei Jahren erweckten Fachpolitikerinnen und -politiker der Ampelfraktionen den Eindruck, es könne noch in dieser Legislaturperiode einen Durchbruch beim ZVR geben. Davon ist jetzt keine Rede mehr.
Scherr: Seit dem Messerattentat von Solingen im August dieses Jahres haben wir eine massive Verschiebung der Debatte in Richtung einer strafrechtlich interpretierten Sicherheitsperspektive. Das führt dazu, dass alles, was in Richtung eines vermeintlich weicheren Umgangs mit Straftätern interpretiert werden kann, politisch nicht mehr akzeptabel ist. Auch hören wir von Fachpolitikerinnen und -politikern sowie Expertinnen und Experten im Bundestag, dass sie inhaltlich durchaus für die Ausweitung des ZVR wären, dass diese aber in der derzeitigen politischen Gesamtatmosphäre nicht mehr durchsetzbar ist.