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Haiti

Magnet für Ausbeutung

Haiti gehört zu den ärmsten Ländern dieser Welt. Das zeigt sich besonders am desolaten Zustand des Bildungswesens.

Durch das Erdbeben Ende August dieses Jahres wurden auf Haiti viele Schulen zerstört. (Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Cholera, Covid-19, eine seit Jahren schwelende politische Krise, ein blutiger Putschversuch, bei dem Präsident Jovenel Moïse getötet wurde, und zuletzt ein Erdbeben: Mit Katastrophen- und Krisennachrichten ist der Karibikstaat Haiti regelmäßig in den Schlagzeilen präsent. Ein Sorgenkind ist die ehemalige französische Kolonie aber auch aus langfristiger Entwicklungsperspektive. Wie in einem Brennglas zeigen sich dort die Folgen der Ausbeutung und anschließenden Vernachlässigung der „Neuen Welt“ durch die Europäer. Die New York Times nannte Haiti einmal einen „magnet for exploitation“ („Magnet für Ausbeutung“) – die Insel blieb auch nach der Ausrufung der Unabhängigkeit vor mehr als 200 Jahren ein Spielball von außen kommender Interessen.

Die internationale Politik zeigt zugleich gerne mit dem Finger auf Haiti. So betonte das Parlament der Europäischen Union (EU) im Mai 2020 in einer Entschließung, die Insel sei „das einzige Land des amerikanischen Kontinents, das zu den am wenigsten entwickelten Ländern zählt“. Nach dem UN-Entwicklungsindex UNDP nehme Haiti weltweit den 170. Rang ein, und sei „weiterhin auf humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe angewiesen“. Die schlechte Ernährungssituation der Bevölkerung habe sich in jüngster Zeit weiter verschärft. Zugleich kritisierten die EU-Parlamentarier die „Misswirtschaft mit internationalen Mitteln“.

„Von den verarmten Eltern schaffen es viele nicht, die Schulgebühren aufzubringen, der Zugang zur öffentlichen Bildung ist auf 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler begrenzt.“ (Georges Wilbert Franck)

Besonders sichtbar ist die Misere des Karibikstaates im Bildungswesen – mit einer Analphabetenrate von mehr als 60 Prozent bildet Haiti das traurige Schlusslicht in Mittel- und Südamerika. Viele Kinder besuchen private Schulen, die meisten Grundschulen verlangen Schulgebühren, obwohl die Verfassung den kostenlosen Schulbesuch garantiert.

„Von den verarmten Eltern schaffen es viele nicht, die Schulgebühren aufzubringen, der Zugang zur öffentlichen Bildung ist auf 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler begrenzt“, bestätigt Georges Wilbert Franck, Koordinator der haitianischen Lehrergewerkschaft UNNOEH (Union Nationale des Normaliens/nes et Educateurs/trices d‘Haiti). Die Qualität der Bildung hänge im privaten Sektor stark von lokalen Bedingungen ab, nicht zuletzt von der ökonomischen Situation der Schülerinnen und Schüler: „Je ärmer eine Region ist, desto schlechter sind die Schulen dort ausgestattet – auch das Gehalt der Lehrkräfte wird von der Realität vor Ort beeinflusst“, so Franck. Vielerorts sei es schwierig, geeignete Lehrerinnen und Lehrer anzuwerben.

Schulen mussten schließen

Durch Corona ist die Schere beim Zugang zu Bildung weiter auseinandergegangen. „Die weltweiten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie treffen viele Familien, die auf Überweisungen von Verwandten aus dem Ausland angewiesen sind“, berichtet Magalie Georges, Generalsekretärin der haitianischen Bildungsgewerkschaft CNEH (Conféderation Nationale des Educatrices et Educateurs d‘Haiti). „Die Belastung durch Bildungskosten ist dadurch angestiegen, so dass viele Schülerinnen und Schüler das Schuljahr nicht beenden konnten.“

Nicht nur Kinderarbeit verhindert oft die Teilhabe an Bildung, sondern auch Zwangsarbeit von Minderjährigen, auf Haiti „Resteavec“ genannt, „bei jemandem bleiben“ – die Kinder der verarmten Unterschichten verdingen sich in fremden Familien. 

Ein normaler Schulbetrieb konnte in den vergangenen Monaten oft auch den Kindern aus wohlhabenderen Familien nicht angeboten werden. Denn seit 2020 hat die Lähmung des politischen Systems zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung geführt.

„Unsere Schwesterorganisationen in Haiti berichten von einer weit verbreiteten Atmosphäre der Unsicherheit, die seit vielen Monaten im Land herrscht“, warnte die stellvertretende Vorsitzende der Bildungsinternationale (Education International – EI), Marlis Tepe, Mitte des Jahres in einem Brief an die deutsche und haitianische Regierung. Zugleich hätten die Bildungsbehörden Strafmaßnahmen gegen hauptamtliche Gewerkschafter verhängt, wird in dem Schreiben kritisiert – so wurden etwa CNEH-Generalsekretärin Georges und UNNOEH-Koordinator Franck in entlegene Gebiete versetzt. „Diese Situation ist völlig inakzeptabel“, betont Tepe und nimmt Deutschland in besondere Verantwortung – schließlich sei die Bundesrepublik Mitglied der für Haiti zuständigen „UN Core Group“.

Wie das Leben vor Ort schon vor dem Anschlag auf Präsident Moïse aussah, berichtet Georges: „Die Gewalt auf den Straßen schränkt das Leben der Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte stark ein. In Port-au-Prince mussten viele Familien aus ihren Stadtvierteln fliehen, die Häuser wurden von Gangs geplündert. Die Schulen in den Konfliktbezirken mussten schließen, die Lehrkräfte werden nicht mehr bezahlt.“ In den ländlichen Regionen seien die Unruhen zwar weniger zu spüren, lokale Hotspots gebe es aber auch dort.

„Es wurde keine einzige Maßnahme zum Schutz der Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler vor der Pandemie ergriffen. In vielen Schulen gibt es nicht einmal Wasser zum Händewaschen, es fehlen räumliche Kapazitäten für Abstandsmaßnahmen.“

Wie beim Schutz vor der Gewalt hat die Regierung auch bei Corona kaum Möglichkeiten einzugreifen. „Es wurde keine einzige Maßnahme zum Schutz der Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler vor der Pandemie ergriffen“, moniert Georges. „In vielen Schulen gibt es nicht einmal Wasser zum Händewaschen, es fehlen räumliche Kapazitäten für Abstandsmaßnahmen.“ Das Tragen von Masken geschehe nur auf freiwilliger Basis, selbst in der Hauptstadt Port-au-Prince sei die Impfkampagne bisher kaum in Gang gekommen. „Seit der zweiten Corona-Welle hat die Regierung Schulfeiern während des Schuljahres und vor den Ferien abgesagt, ansonsten ist aber nichts passiert, es gibt keine konkreten Schutzmaßnahmen“, bemängelt Franck.

Doch die eigentlichen Probleme liegen deutlich tiefer. Neben Soforthilfen in Bereichen wie Hygiene, Schulessen oder Lernmitteln fordern Georges wie auch Franck deswegen grundlegende Reformen, um das von der Verfassung garantierte Recht auf Bildung ebenso durchzusetzen wie das Recht auf gewerkschaftliche Tätigkeit. Vorerst bleiben allerdings viele Unwägbarkeiten: Schafft Übergangspräsident Joseph Lambert es mit den vorhandenen Mitteln, die Lage zu beruhigen? Werden die für den 26. September (nach Drucklegung dieser Ausgabe, Anm. d. Red.) angesetzten Neuwahlen Parlament und Regierung wieder Legitimität verleihen? Viel hängt auch davon ab, wie sich die USA und die EU verhalten.