Autistische Kinder
Lohnende Herausforderung
E&W-Autorin Karla Graßt, Lehrerin an einem Gymnasium, schreibt über ihre Erfahrungen mit einem autistischen Kind, das in ihre Klasse kommt.
Es ist große Pause und ich trinke schnell einen Kaffee in der Lehrerzimmerküche. Da entdeckt mich unser Orientierungsstufenleiter: „Gut, dass ich dich sehe, in deine neue 5. Klasse kommt noch ein besonderes Kind.“ Ich werde hellhörig. Besonders klingt vor allem nach besonders viel Arbeit, weil das Kind besonders begabt, aktiv oder „verhaltenskreativ“ ist. Was denn die besondere Eigenschaft dieses Kindes sei, möchte ich daher wissen. „Ben* hat eine starke Ausprägung der Autismus-Spektrum-Störung“, erklärt mir der Stufenleiter, „er hat Schwierigkeiten beim Kontakt mit seinen Mitmenschen, später Schreiben gelernt und tut sich schwer mit umfangreichen Arbeitsaufträgen. Gut strukturierte Vorgaben helfen ihm, außerdem hat er einen Schulbegleiter, der ihn bereits seit Jahren im Unterricht unterstützt.“
Langsam verstehe ich, warum dieses Kind in meine Klasse kommen soll. Ich bin für meinen gut organisierten Unterricht bekannt, zudem sind meine beiden naturwissenschaftlichen Fächer per se strukturiert. Aus Sicht der Schulleitung ist klar: Der Junge passt zu mir. Aus meiner Sicht sind da vor allem großer Respekt vor dieser Aufgabe und viele Fragezeichen. Da hilft nur eins – schnelle Klärung. Also treffe ich mich bereits vor den Sommerferien mit Ben, seinen Eltern, seinem Schulbegleiter und die für unseren Kreis zuständige Beratungslehrkraft für autistische Kinder. Damit Ben bei uns an der Schule gut starten kann, möchte ich ihn und seine Bedürfnisse rechtzeitig kennenlernen. Viele Themen beschäftigen mich, angefangen mit „Wird Ben die Einschulung mit so vielen neuen Eindrücken gut meistern?“ bis hin zu „Wie benote ich ihn?“
Schulbegleiter als „Dolmetscher“
Das erste Kennenlernen entspricht allen Klischees: Wir Erwachsenen begrüßen uns mit Handschlag und Augenkontakt, Ben dagegen schaut mich nicht einmal an. Meine Fragen an ihn beantwortet seine Mutter. Wie soll das nur im Unterricht funktionieren, überlege ich. Doch als ich wissen möchte, ob ich ihn im Unterricht „drannehmen“ dürfe, antwortet Ben plötzlich selbst: „Klar, warum nicht?“ Dabei grinst er mich etwas verschmitzt an, bevor er schnell wieder auf die Tischplatte schaut. Dennoch ist das genau der Moment, in dem ich merke: Der Junge ist cool.
Am Ende dieses Gesprächs erkenne ich, dass Ben schon zeigen wird, was er möchte und was nicht. Und als „Dolmetscher“ gibt es schließlich noch seinen Schulbegleiter. Für die Leistungsbeurteilung hilft uns die Beratungslehrkraft, einen passenden Nachteilsausgleich zu formulieren, der regelmäßig angepasst wird. Ben erhält beispielsweise in Klassenarbeiten mehr Zeit, er muss nicht in Gruppen agieren und die mündliche Mitarbeit, welche Ben schwerfällt, kann weniger Gewicht erhalten sowie durch Alternativen, etwa das Abgeben von Hausaufgaben, ergänzt werden.
Herausfordernder Umgang
Am Einschulungstag bin ich aufgeregter als sonst. Wie wird Ben auf die neue Umgebung reagieren? Was mache ich, wenn er plötzlich aus dem Klassenraum rennt, weil ihm alles zu viel ist? Tatsächlich klappt alles und Ben geht gemeinsam mit den anderen Kindern auf die Aula-Bühne. Ich merke schon in den ersten Wochen, dass Ben am liebsten wie die anderen sein möchte. Das fällt ihm schwer und kostet ihn unheimlich viel Kraft. Ben bekommt Medikamente, sodass er vormittags konzentriert mitarbeiten kann, nachmittags entlädt sich die Anspannung oft in Form von Aggressionen gegenüber seiner Familie. Aber er stellt sich sowohl den Kennenlernspielen mit den vielen Interaktionen als auch den neuen Räumen, Abläufen und Unterrichtsinhalten.
Ohne Bens Schulbegleiter wäre ich allerdings häufiger unsicher und könnte es nicht leisten, all seine Bedürfnisse zu erfüllen. Falls Ben eine Arbeit lieber allein in einem Raum schreiben möchte, ist sein Schulbegleiter an seiner Seite. Im Klassenraum sitzt er in seiner Nähe, aber nicht direkt neben ihm, damit Ben mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern in Kontakt kommt. Das klappt nicht immer, denn Bens Art kann auch verprellen. Wenn ihn zum Beispiel jemand fragt, warum er gestern nicht da war, lautet seine Antwort nicht „Ich war krank“, sondern „Das geht dich gar nichts an“.
Der Umgang mit Ben ist für Mitschülerinnen, Mitschüler und Lehrkräfte besonders herausfordernd, genauso wie Schule für Ben eine besondere Herausforderung darstellt. Und ja: Besondere Kinder bedeuten mehr Arbeit und Zusatzengagement von uns Lehrkräften. Aber es lohnt sich, für Ben und für alle anderen Kinder.
*Diesen Artikel veröffentlichen wir unter Pseudonym, um die Autorin und den Schüler zu schützen.