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Lohndumping gefährdet Europa

Deutsche Exportüberschüsse und Agenda 2010 sind Auslöser hoher Staatsschulden.

„Wir haben in Europa eine Staatsschuldenkrise, weil in vielen Ländern unsolide gewirtschaftet wurde“, behauptet Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Deshalb müssen aus ihrer Sicht Schuldenabbau ebenso wie die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Tagesordnung der Euro-Länder stehen. Deutschland solle als Vorbild dienen: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Um Schuldenabbau und Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen, sind nach Merkels Auffassung massive Einschnitte bei Lohn-, Renten- und Sozialleistungen erforderlich. Deshalb macht sie sich für den Export der Agenda 2010 stark.

Bislang wurde Griechenland, aber auch Irland und Portugal eine die Krise nur verschlimmernde, von strengen Kürzungszwängen diktierte Finanzpolitik aufgezwungen. Jetzt will Merkel die europäischen Verträge ändern, in die nationale Souveränität anderer Länder eingreifen und sie auf die deutsche Spar- und Ordnungspolitik verpflichten.

Sofern die Euro-Zone in den nächsten Monaten nicht ohnehin kollabiert, droht mit Merkels Kurs der ökonomische Niedergang Europas: Deflation und Depression.

Dabei ist die Politik der Agenda 2010 selbst die zentrale Ursache der europäischen Krise. Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes wurden die Gewerkschaften in Deutschland geschwächt und ein gigantisches Lohndumping eingeleitet. Fakt ist: Die Löhne sind seit 2000 preisbereinigt um 4,5 Prozent gesunken. Fair wäre ein Lohnzuwachs um mindestens zehn Prozent gewesen; wie er in vielen anderen Ländern Europas realisiert worden ist. Wenn Löhne sinken, schwindet die Kaufkraft der Menschen. Davon sind auch die importierten Güter betroffen, sodass viele Staaten es schwer haben, Waren nach Deutschland zu exportieren. Lohndumping ist gut für die Profite der Unternehmer, auch für ihre Wettbewerbsfähigkeit im Ausland. Kein Wunder, dass die deutschen Exporte seit dem Jahr 2000 massiv ansteigen. In der Schere zwischen ausgebremsten Importen und steigenden Exporten explodierte der Außenhandelsüberschuss. Seit 2000 haben deutsche Unternehmer für 1,2 Billionen Euro mehr ins Ausland verkauft als sie an Gütern und Dienstleistungen von anderen Ländern einkauften. In den ersten drei Quartalen 2011 betrug der Überschuss knapp 120 Milliarden Euro, davon 65 Milliarden in der Eurozone.

Keine schulden-, sondern Lohnkrise

enn ein Land fortwährend erhebliche Exportüberschüsse erzielt, verschulden sich die anderen Länder fast zwangsläufig. Nur so sind sie in der Lage, die Exporte zu bezahlen. Das deutsche Lohndumping und die Schulden der europäischen Krisenländer sind zwei Seiten derselben Medaille: Wir haben keine Schulden-, sondern eine Lohnkrise! Wenn der Euro kollabiert, käme es zu einer neuen deutschen Währung, aufgewertet gegenüber anderen Währungen um 40 Prozent. Die Folge: Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft nähme rapide ab, Millionen Arbeitsplätze in der Exportindustrie wären bedroht.

Was ist die Alternative? Erstens muss die Bundesregierung in Deutschland das Lohndumping beenden, indem sie einen gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro einführt und sich von der Agenda 2010 verabschiedet sowie die Tarifflucht der Unternehmer gesetzlich unterbindet.

Zweitens muss die Europäische Zentralbank (EZB) weiterhin massiv eingreifen bei der Stabilisierung der Finanzmärkte (s. S. 15). Notwendig ist darüber hinaus die direkte Finanzierung der Krisenstaaten. Sie würde niedrigere Zinssätze, orientiert am EZB-Leitzins, ermöglichen. Vor allem wäre dann die Finanzierung der Euro-Staaten der Willkür privater Finanzmärkte entzogen; Spekulanten, Zocker und Rating-Agenturen könnte man auf diese Weise ausschalten. Zahlten Millionäre und Multimillionäre europaweit zudem einmalig eine Vermögensabgabe von 50 Prozent, ließen sich die Staatsschulden halbieren.

Klar ist: Nur mit einem grundlegenden Kurswechsel ist Europa zu retten. Nur so kann sich das Primat der Politik gegenüber dem Terror der Finanzmärkte durchsetzen.