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„Lieber tot als in Europa“

„Wir tun nichts Anderes, als Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Und das ist eigentlich eine staatliche Aufgabe“, sagt Politikwissenschaftlerin Sandra Hammamy. Bei der Nichtregierungsorganisation Sea-Watch hilft sie Flüchtlingen in Seenot.

Foto: Fabian Melber

Sandra Hammamy (46) ist Politikwissenschaftlerin und Studienkoordinatorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Bei Sea-Watch e.V. hilft sie, flüchtende Menschen aus Seenot zu retten. Ein Gespräch über die Lage auf dem Mittelmeer, die europäischen Deals mit der Türkei sowie Libyen und die Bedeutung des Themas für die Schule.

  • E&W: Was hat Sie dazu bewogen, sich in der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer zu engagieren?

Sandra Hammamy: Spätestens seit dem großen Schiffsunglück Ende 2013 und den vielen Toten, die vor Lampedusa angespült wurden, können wir die Augen nicht länger davor verschließen, dass mitten in Europa und damit direkt vor unserer Haustür Menschen sterben. 2014 haben einige Privatpersonen den Verein Sea-Watch gegründet und ein Schiff gekauft, weil sie nicht tatenlos zusehen wollten. Da ich ausgebildete Rettungsschwimmerin bin und arabisch spreche, habe ich mich als Helferin gemeldet und fahre seither bei Einsätzen mit, zunächst im zentralen Mittelmeer und dann in der Ägäis. Von Oktober 2015 bis April 2016, als sehr viele Menschen aus Syrien von der Türkei in Richtung griechische Inseln flohen, waren wir insbesondere dort im Einsatz. Bis zu 70 Boote kamen täglich in Lesbos an.

  • E&W: Wie war die Situation vor Ort?

Hammamy: Trotz der recht kurzen Distanz sind viele Menschen vor der griechischen Küste ertrunken. Sehr beeindruckt hat mich die Welle der Solidarität. Hunderte Freiwillige haben auf Lesbos die Rettung und Versorgung der Geflüchteten organisiert. Auch die griechische Bevölkerung hat geholfen – und damit Menschen, die selbst wenig haben und von der Europäischen Union (EU) über Jahre im Stich gelassen wurden. Zugleich haben wir zunehmend die Folgen des europäischen Deals mit der Türkei zu spüren bekommen. Die Türkei wollte zeigen, dass sie gegen entsprechende Zahlungen in der Lage ist, die Route zuzumachen. Dabei drängt die türkische Küstenwache Boote auch gewaltsam vom griechischen ins türkische Gewässer zurück. Diese Menschenrechtsverletzungen sind dokumentiert. Diese Deals führen auch dazu, dass die Menschen auf Routen ausweichen, die länger und gefährlicher sind.

  • E&W: Nach dem Vorbild der Vereinbarung mit der Türkei soll es eine ähnliche mit Libyen geben.

Hammamy: In Libyen gibt es keine Regierung, sondern konkurrierende Milizen. Die Situation von Geflüchteten ist katastrophal: Misshandlungen, Folter und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Die Folgen sehen wir jeden Tag auf dem Schiff. Auch die Vereinten Nationen haben die Zustände angeprangert. Mit einem derart instabilen Land Deals abzuschließen, um so um jeden Preis zu verhindern, dass Menschen Europa erreichen, ist verantwortungslos und macht mich wütend.

  • E&W: Erst seit wenigen Wochen sind Sie von Ihrem jüngsten Einsatz zurück. Wo waren Sie zum Jahreswechsel?

Hammamy: Alle drei Wochen fahren wir mit einer 22-köpfigen Crew vor die libysche Küste. Das Suchgebiet ist ungefähr so groß wie das Saarland und schwierig abzudecken. Weil die Situation für die Helferinnen und Helfer aufgrund der Attacken der libyschen Küstenwache sehr gefährlich geworden ist, waren dort zuletzt nur noch zwei Rettungsschiffe unterwegs. Am 1. Januar haben wir 92 Menschen retten können. Einen Tag später haben wir über Funk gehört, wie zwei Boote vor Tripolis gesunken sind. Dabei sind 64 Menschen ertrunken.

  • E&W: Für die Helferinnen und Helfer ist das eine sehr belastende Situation. Wie verarbeiten Sie das Erlebte?

Hammamy: Nach jedem Crew-Wechsel haben wir eine psychologische Betreuung; und wir versuchen, uns an dem Gedanken festzuhalten, dass wir Leben retten konnten. Menschen an Bord zu haben, die Unfassbares mitgemacht haben, relativiert zudem die eigene Belastung. Und es ist gut, weiterhin im normalen Alltag an der Uni und in der Familie verankert zu sein. Manchmal erscheinen mir die Probleme des alltäglichen Lebens dann zwar banal; zugleich sorgen sie für die notwendige Distanz.

  • E&W: Politik wirft Seenotretterinnen und -rettern vor, die Fluchtbewegungen zu verstärken.

Hammamy: Es gibt mittlerweile wissenschaftliche Studien zu den Fluchtbewegungen seit 2013, die keinen Zusammenhang festgestellt haben. Und es ist bekannt, dass auf dem Mittelmeer ein Massensterben stattfindet. Dennoch werden die Nichtregierungsorganisationen aufgefordert, sich aus dem Gebiet zurückzuziehen. Das offenbart das eigentliche Ziel der Politik: lieber tot als in Europa. Wir tun nichts Anderes, als Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Und das ist eigentlich eine staatliche Aufgabe.

  • E&W: Was fordern Sie?

Hammamy: Langfristig verlangen wir, die Fluchtursachen zu bekämpfen, kurzfristig sichere Fluchtwege. Stattdessen werden Menschen dazu gezwungen, ihr Leben zu riskieren, um das Recht auf Asyl überhaupt in Anspruch nehmen zu können.

  • E&W: Sie unterrichten Lehramtsstudierende an der Universität Gießen; und sie bilden zusammen mit der GEW Lehrkräfte und Schulklassen zu Flucht und Seenotrettung fort. Warum ist das Thema für Pädagoginnen und Pädagogen, Schülerinnen und Schüler wichtig?

Hammamy: Lehrkräfte haben eine besondere Aufgabe, wenn es darum geht, Jugendliche zu mündigen und toleranten Demokratinnen und Demokraten zu erziehen. Dazu ist wichtig, dass diese auf der Grundlage von Faktenwissen ihre eigene Meinung vertreten, anstatt populistischen Parolen zu folgen. Für mich bringt das Privileg, in einer Demokratie zu leben, die Verpflichtung mit sich, diese mitzugestalten und ihre Werte, Toleranz und Offenheit allen Menschen gegenüber, hochzuhalten. Das möchte ich Studierenden und Jugendlichen vermitteln. In einigen Wochen werde ich mit Sea-Watch-Kollegen einen Projekttag mit drei Schulklassen interaktiv gestalten. Diese Schule möchte die Arbeit des Vereins auch mit einer Spende unterstützen. Das ist wichtig, weil wir unsere Arbeit ausschließlich aus Spenden finanzieren. Aber ebenso sehr freut uns die Möglichkeit, über die Lage auf dem Mittelmeer aufklären zu können. Bislang ist dies bei Studierenden und Schülerinnen wie Schülern immer auf großes Interesse und Betroffenheit gestoßen.

Sandra Hammamy, Politikwissenschaftlerin und Studienkoordinatorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Foto: Moritz Richter