In Deutschland leben rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren, die allenfalls bis zur Ebene einfacher Sätze lesen und schreiben können. Es ist ein gesellschaftspolitischer Skandal, dass in einem reichen Land wie Deutschland praktisch jede bzw. jeder Achte nicht wirklich lesen und den Sinn eines Textes verstehen kann. Dem muss entschlossener als bisher entgegengewirkt werden.
Woher kommen die Zahlen? Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Universität Hamburg haben die neue Grundbildungsstudie LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität während der Jahreskonferenz AlphaDekade 2019 vorgestellt. Sie ist nach 2010 die zweite Studie dieser Art.
Im Vergleich zur ersten ist der Prozentsatz der funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten von 14,5 auf 12,1 Prozent gesunken. Das ist die gute Nachricht – es gibt Erfolge bei den Jüngeren. Da an der Studie aber nur Menschen teilgenommen haben, die auf die Interviewfragen antworten konnten, sind diejenigen nicht erfasst, deren deutsche Sprachkenntnisse dafür nicht ausreichen. Also müssen zu diesem Prozentsatz noch alle Menschen addiert werden, die in einer anderen Sprache zu Hause sind und noch nicht genug Deutsch können – das ist die schlechte Nachricht.
Gut ist, dass es diese Studien gibt, denn durch sie wurde die (bildungs)politische Öffentlichkeit erst darauf aufmerksam, wie hoch die Zahl der Erwachsenen ist, denen es an Lesekompetenz fehlt. Die GEW weist auf dieses Problem schon seit Jahren hin und kritisiert den Mangel an Gegenmaßnahmen.
Um zu verhindern, dass Menschen als Erwachsene nicht lesen können, muss Sprachförderung in der Kita beginnen.
Wir wissen: Diese Erwachsenen können ihren Kindern keine Geschichten vorlesen, sie können Formulare nicht sachgerecht ausfüllen, sie müssen sich bei der Arbeit verstecken, weil sie zum Beispiel Aufträge nicht bearbeiten oder Urlaubspläne nicht erstellen können. Ganz zu schweigen vom Lesen und Verstehen von Zeitungsartikeln oder Meldungen auf -Social Media und der Möglichkeit, sich eigenständig Meinungen und Wissen zu erarbeiten. Wer nicht hinreichend lesen kann, ist besonders häufig von Erwerbslosigkeit oder Arbeit im Niedriglohnsektor betroffen. Die Teilhabe an der Gesellschaft ist eingeschränkt. Auf der GEW-Herbstakademie der Weiterbildung im November 2013 hat die GEW das Thema „Grundbildung fördert Beteiligung“ zum Thema gemacht.
Was ist bisher die Folge? Das BMBF hat mit einer Reihe von Partnerorganisationen, etwa der Kultusministerkonferenz, dem DGB, Arbeit und Leben sowie Volkshochschulen die AlphaDekade 2016-2026 ausgerufen. Ziel ist, ein Bewusstsein für Nöte der Menschen zu schaffen, Hürden abzubauen, damit diese an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen können. Das DGB-Bildungswerk hat das Projekt MENTO aufgelegt, in dem Kolleginnen und Kollegen zu Mentorinnen und Mentoren für Grundbildung im Betrieb ausgebildet werden, um Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, zu unterstützen.
Das reicht aber nicht! Um diesen Erwachsenen das Leben zu erleichtern und ihnen eine Teilhabe am Arbeitsmarkt zu sichern, muss Weiterbildung insgesamt besser ausgestattet werden und vor allem auch Grundbildung umfassen. Dafür braucht es einen Schulterschluss von Bund, Ländern und Kommunen. Mit dem DGB setzen wir uns für flächendeckende Bildungsberatungsnetzwerke in Betrieben ein. „Lesen macht stark!“ muss propagiert werden. Die Volkshochschulen sind mit den nötigen Ressourcen auszustatten.
Um zu verhindern, dass Menschen als Erwachsene nicht lesen können, muss Sprachförderung in der Kita beginnen. Dafür bedarf es Zeit und Fortbildung. Aber auch Schulen – vor allem in sozialen Brennpunkten – brauchen zusätzliche materielle Ressourcen, insbesondere Personal, Lesepaten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, damit Schülerinnen und Schüler die Schule als Leserinnen und Leser verlassen. Nur so kann dem Analphabetismus effektiv entgegengewirkt werden.