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Deutscher Schulpreis

„Lernen ist in jedem Kind verankert“

Alexandra Vanin leitet die Otfried-Preußler-Grundschule in Hannover, Trägerin des Deutschen Schulpreises. Dort lernen 400 Schülerinnen und Schüler mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam. „Lernen ist in jedem Kind verankert“, sagt Vanin.

Die Otfried-Preußler-Schule in Hannover hat den mit 100.000 Euro dotierten Deutschen Schulpreis 2020 gewonnen. Überzeugt hat die Jury das gute Miteinander an der Schule. (Foto: Alexander Koerner)
  • E&W: Vorab, das ist in diesen Zeiten ja immer Thema: Was machen Sie, wenn Ihre Schule in den Corona-bedingten Lockdown gehen muss?

Alexandra Vanin: Wir können jederzeit in das Distanzlernen gehen. Dafür wird die digitale Lernplattform so bestückt, dass jede Schülerin und jeder Schüler jederzeit zu Hause weiterarbeiten kann. Dazu gehört passendes Material, aber auch das Einsprechen von Inhalten. Da bei uns im Unterricht nicht alle dasselbe lernen, ist das nicht ganz ohne.

  • E&W: Wie klappt denn das Distanzlernen mit Ihrer heterogenen Schülerschaft?

Vanin: Die Lage ist für sie in der Schule wie digital eine Riesenherausforderung. Im Unterricht sitzen Schülerinnen und Schüler, die immens von gemeinsamem Lernen profitieren, nun mit ihren Rechenschiebern und Holzwürfeln allein da, weil diese nur noch von einem angefasst werden dürfen. Und digital fällt eine ganze Reihe Dimensionen weg: Gebärden oder Hautkontakte etwa.

  • E&W: Verbietet sich das mit den Hautkontakten nicht ohnehin?

Vanin: Wie soll das gehen? Bei ehrlicher Betrachtung gar nicht. Wir haben vier Kohorten von der 1. bis zur 4. Klasse, die in getrennten Häusern lernen und lehren, und sich möglichst wenig – und dann nur mit Maske – begegnen. Innerhalb der Häuser können und müssen wir angesichts des Alters und des Förder- und Betreuungsbedarfs der Kinder keine Abstandregeln einhalten – jedenfalls bis jetzt, Anfang November. Natürlich ist das schwierig, und wir gehen im Kollegium offen damit um. Nur eine Alternative sehen wir nicht.

  • E&W: In dieser besonderen Zeit haben Sie für Ihre inklusive Arbeit den Deutschen Schulpreis erhalten.

Vanin: Ja, so wurde das erzählt, und das freut uns auch. Allerdings verstehen wir uns gar nicht im herkömmlichen Sinne als inklusive Schule. Sondern als eine, zu deren Selbstverständnis gehört, jedes Kind individuell zu begleiten.

  • E&W: Ist das nicht inklusives Lernen?

Vanin: Wir finden: ja. Oft wird darunter aber doch das „Irgendwie-Einbauen“ von Kindern mit Beeinträchtigungen bezeichnet. Bei uns sind das keine zusätzlichen Kinder. Wir schauen bei jedem Kind – vom hochbegabten bis zu dem mit dem Förderstatus Geistige Entwicklung –, was es mitbringt und wie wir ihm gerecht werden. Um das umzusetzen, haben wir alle gleichschrittigen Strukturen abgeschafft: Es gibt keinen 45-Minuten-Takt, keinen Frontalunterricht und kaum Kinder, die zur gleichen Zeit das Gleiche tun.

  • E&W: Außer Klassenarbeiten zu schreiben, wenn auch mit individualisierten Aufgaben ... oder?

Vanin: Auch das nicht. Alle Schülerinnen und Schüler arbeiten nach einem individuellen Plan und halten an einem „Lernrad“ fest, wo sie stehen. So machen wir möglich, dass ein Kind in Deutsch Bücher der 4. Klasse liest, in Mathe aber noch in der 1. Klasse ist. Auf dieser Basis absolviert es in jedem Quartal eine Lernstandskontrolle – zu einem selbst gewählten Zeitpunkt, der mit den Lehrkräften besprochen wird.

  • E&W: Oft heißt es, die intrinsische Motivation, die es für so ein selbstreguliertes Lernen braucht, brächten bestenfalls Kinder aus akademischen Elternhäusern auf.

Vanin: Das halte ich für eine bösartige Unterstellung; ebenso wie wenn man Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht zutraut, ihren Job ordentlich zu machen und ihnen ständig einen „Schatten“ zur Seite stellt. Lernen ist in jedem Kind verankert. Natürlich gibt es Schülerinnen und Schüler, die mehr und weniger Struktur, größere und kleinere Lernportionen benötigen. Auch dass ein Kind sich wegduckt, kommt vor. Das Wichtigste aber sind wir Lehrkräfte: Es muss uns gelingen, mit jedem einzelnen Kind Ziele zu entwickeln, die zugleich eine Herausforderung und erreichbar sind.

  • E&W: Können Sie Ihren Weg zu einer inklusiven Schule – kurz – beschreiben?

Vanin: Begonnen haben wir ganz klein: mit einer Integrationsklasse, deren Lehrkräfte fortan bei Dienstbesprechungen über den Stand berichteten. Nach und nach gingen Kolleginnen und Kollegen dort hospitieren. Als nächsten Schritt haben wir eine Fachkonferenz Inklusion gegründet. Die Teilnahme war freiwillig, wir wollten das niemandem überstülpen. Es wollten aber schnell immer mehr dabei sein, weil der Prozess als Chance erlebt wurde: Wie wollen wir uns selbst organisieren? Wie können wir am besten in Teams arbeiten? Wie schaffen wir eine gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder? Das sind ja spannende Fragen.

  • E&W: Hatten Sie Hilfe von außen?

Vanin: Wenn es möglich war, haben wir Schulentwicklungsberater oder andere Referenten eingeladen. Der Rahmen war allerdings so begrenzt, wie die Ressourcen es sind.

  • E&W: Und die Kolleginnen und Kollegen sind alle dabeigeblieben?

Vanin: Ja, in zehn Jahren gab es keine einzige Versetzung. Ich denke, es ist uns gelungen, ein Modell zu entwickeln, das alle mitgenommen hat und weiterhin mitnimmt. Zum Beispiel haben wir eine Zukunftswerkstatt veranstaltet, in der alle Lehrkräfte formulierten, welche kindgerechte Pädagogik sie sich wünschen, Traumschlösser eingeschlossen. Möglichst viel davon umzusetzen, war ein Auftrag, den wir in der Schulleitung sehr ernstgenommen haben. Ein Bällebad auf dem Dachgarten oder mehr Männer im Schuldienst lagen nicht in unserer Macht. Doch was ging, haben wir gemacht, dabei half, dass ich mich mit meiner Stellvertreterin gezielt zusammen beworben habe. Wir kannten uns von einer anderen Schule und hatten fest im Blick, etwas Neues zu versuchen. Dabei haben wir akzeptiert, dass zu jedem Schritt nach vorn ein halber zurück gehört. Was zu schnell geht, wird auch einmal unterbrochen.

  • E&W: Woran merken Sie das?

Vanin: Am deutlichsten bei einer jährlichen schulinternen Mitarbeiterfortbildung. Auf dieser besprechen wir, wo wir stehen, was gut und weniger gut klappt, und fragen, ob wir unsere Ziele anpassen müssen. Eine solche Verständigung über unsere Werte und Haltungen erneuert zudem immer wieder unser Fundament. Und sie bindet Kolleginnen und Kollegen ein, die noch nicht so lange da sind.

  • E&W: Wie vereinbaren Sie all das mit Ihrer Arbeitszeit?

Vanin: Im Großen und Ganzen schaffen wir es im Rahmen der geltenden Arbeitszeitregelungen. Das bedeutet nicht, dass es nicht Phasen gibt, die mehr und weniger arbeitsintensiv sind. Doch die Zufriedenheit ist groß, alle erleben den hohen Grad an Teamarbeit und Beteiligung als enorm effizient und gewinnbringend. Das liegt sicher auch daran, dass wir zusätzliche Ebenen der Kommunikation geschaffen haben, die dafür sorgen, dass alle mitgestalten können.

  • E&W: Bekommen Sie viele zusätzliche Stunden, weil sie viele Kinder mit Förderstatus haben?

Vanin: Nein! Die Zuschreibung für Förderschülerinnen und -schüler im Land Niedersachsen ist furchtbar. Es gibt zwei zusätzliche Stunden pro Klasse und Woche – nicht etwa pro Schülerin oder Schüler. Die einzige Ausnahme sind Kinder mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung mit fünf Stunden pro Kind. Was wir haben, sind Schulassistentinnen und -assistenten sowie andere pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, teils auch junge Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machen. Wir mobilisieren jede und jeden, der oder die Lust auf Kinder und Teamarbeit hat – und den wir bezahlen können.

  • E&W: Stimmen denn die Räume?

Vanin: Ein klares Ja! Vor vier Jahren hat die Stadt Hannover für uns das erste barrierefreie, voll inklusive Schulgebäude errichtet. Seither haben wir vier separate, mit Fahrstühlen ausgestattete Häuser, es gibt Ergo-Räume, Wickelmöglichkeiten und vieles mehr. Und das hat uns allen das Lernen und Lehren wirklich erleichtert.

Alexandra Vanin (Foto: Otfried-Preußler-Grundschule)