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Straßenschulen

Lernen im eigenen Tempo

Bundesweit haben mehr als 180.000 Jugendliche kein Zuhause. Sie leben in Unterkünften, manche hausen auf der Straße. Viele sind Schulabbrecher. „Straßenschulen“ ermöglichen diesen jungen Menschen einen Bildungsabschluss.

Sozialarbeiter Timm Riesel im Gespräch mit einer Schülerin. „Wer den Glauben an die Zukunft wiedergewonnen hat, der will weiterkommen“, sagt der Leiter der Straßenschule bei „Prejob Dortmund“. (Foto: Institut für Pädagogikmanagement gGmbH)

Er komme „so gut wie jeden Tag“, sagt Oliver (Name geändert), 22 Jahre. „Gegen 12 Uhr, vielleicht auch 13 Uhr“ treffe er ein. Und bleibe bis 16 Uhr. Ihm gefalle, „dass man hier mit eigenem Tempo lernen kann“. Und wenn Fragen auftauchten, habe immer jemand Zeit für ihn. Der kräftig gebaute junge Mann, Brille, weißes T-Shirt, berichtet: Ein halbes Jahr lang habe er keine Wohnung gehabt, musste bei Freunden übernachten. Das Jobcenter empfahl ihm, sich an die Straßenschule „Prejob Dortmund“ zu wenden. Seit zwei Jahren sei er nun hier, lebe von Bürgergeld, erzählt er. Er wolle den Realschulabschluss nachholen. Sein Lieblingsfach: Biologie. „Momentan bearbeite ich das Thema Blutkreislauf“, sagt Oliver.

Die Straßenschule „Prejob Dortmund“ befindet sich, zehn Minuten Fußweg vom Hauptbahnhof entfernt, in der Kampstraße 36, einem Bürogebäude. Per Fahrstuhl geht es in den fünften Stock. Der Sozialarbeiter Timm Riesel leitet die Einrichtung. „Wir haben hier Platz für 25 Teilnehmende“, erläutert der 36-Jährige. Zum Team gehören außer Riesel zwei Sozialarbeiterinnen sowie vier „Lernbegleiterinnen und -begleiter“. Das sind Lehramtsstudierende ab dem dritten Fachsemester, angestellt mit einem Werkstudierendenvertrag. Träger der Einrichtung ist die Off Road Kids Stiftung, eine gemeinnützige Einrichtung mit Sitz in München, die Projekte zugunsten von Straßenkindern und jungen Obdachlosen in Deutschland fördert.

Psychische Erkrankungen und Suchtprobleme

Zu „Prejob Dortmund“ gehören zwei Büros, Teeküche, zwei Lernräume und der Ankunftsbereich. Dort steht ein Schrank mit abschließbaren Fächern. „Alle Teilnehmenden haben hier ihren Spind“, erläutert Riesel. „Für persönliche Dinge, aber auch für die Schulmaterialien.“ Im Lernraum nebenan: zwei grün-weiße Tische mit jeweils vier, durch Sichtblenden abgetrennte Arbeitsplätze. „Da kann man in Ruhe sitzen und seine Aufgaben erledigen“, sagt Riesel. Wer Hilfe benötigt, geht in den zweiten Lernraum. „Hier bieten wir Einzelnachhilfe an.“ Weitere Funktion des Raumes: „Wer einen schlechten Tag hat, kann sich dorthin zurückziehen.“

Die meisten jungen Menschen, die die Einrichtung aufsuchen, haben schwerwiegende Probleme. „Psychische Erkrankungen spielen eine große Rolle“, etwa Depression, Schizophrenie oder Impulskontrollstörung, erläutert Riesel. Auch Suchterkrankungen seien verbreitet. „Wir beraten, dass man das ärztlich checken lässt.“ Auch zu Drogenberatungsstellen pflege die Straßenschule engen Kontakt. Doch werde kein Zwang ausgeübt. Allerdings stehe in den Hausregeln von „Prejob Dortmund“, dass kein Teilnehmender „konsumiert hierherkommen darf“. Wer angetrunken, bekifft oder vollgedröhnt erscheint, muss wieder gehen. „Wir wollen verhindern, dass Triggerpunkte gesetzt werden“, betont Riesel.

Der Wohnungslosenbericht der Bundesregierung von 2024 zeigt: Bundesweit gibt es 176.000 wohnungslose Menschen, die jünger als 25 Jahre sind und die in Sammelunterkünften oder anderen Einrichtungen untergebracht wurden. Hinzu kommen gut 5.000 Wohnungslose in diesem Alter, die zumeist auf der Straße leben.

„In diesen Straßenschulen ist Beziehungsarbeit die Grundlage eines jeden Lernprozesses.“ (Matthias Fischer)

Eine Studie aus dem Jahr 2016 kam zum Ergebnis: Von 205 wohnungslosen Jugendlichen besaßen 30 Prozent trotz entsprechenden Alters keinen Schulabschluss. Viele wohnungslose Jugendliche hätten „multiple negative Erfahrungen im Schulsystem gesammelt“, erklärt Matthias Fischer, 30 Jahre, der an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg zum Thema Straßenschulen promoviert. Die jungen Leute berichteten von „Mobbing oder Problemen mit einzelnen Lehrkräften“. Sie erlebten dort „ähnliche Ausgrenzungstendenzen wie in der Familie“. Die schwierigen Lebensumstände und die negativen schulischen Erlebnisse, so Fischer, führten zu „Abkehrspiralen, bestehend unter anderem aus Absentismus und Leistungsproblemen“. An deren Ende stehe oft der Schulabbruch.

Fischer untersuchte, begleitet von seiner Doktormutter Prof. Manuela Welzel-Breuer, wie Bildungseinrichtungen aussehen müssen, damit sie den Bedürfnissen wohnungsloser Jugendlicher gerecht werden. Dazu befragten sie Lehrkräfte und Verantwortliche von bundesweit zwölf Straßenschulen und werteten Studien aus. „In diesen Straßenschulen ist Beziehungsarbeit die Grundlage eines jeden Lernprozesses“, betont Fischer. Zu den Erfolgsfaktoren gehörten eine „Kultur der Wertschätzung“, ein höherer Betreuungsschlüssel als an herkömmlichen Schulen sowie flexible Schulzeiten. Wichtig sei, dass „individuelles Lernen mit ausreichender Zeit“ angeboten werde – und nicht vorgegebene Inhalte, die „im Gleichschritt durchgegangen werden müssen“. Herkömmliche Bildungseinrichtungen wie Abend- oder Kollegschulen seien für solch ein Konzept „nicht flexibel genug“. Auch könnten sie zumeist keine zusätzliche Unterstützung, etwa durch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, anbieten.

Knapp 5.000 junge Menschen, die jünger als 25 Jahre sind, leben in Deutschland derzeit auf der Straße, haben nachts kein Dach über dem Kopf. Viele haben keinen Schulabschluss. (Foto: IMAGO/Rolf Zöllner)

Einmal im Jahr externe Prüfung

Und wo machen die Teilnehmenden von „Prejob Dortmund“ ihren Schulabschluss? Einmal im Jahr finde eine externe Prüfung statt, erklärt Riesel. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden jeweils Anfang Februar beim Dortmunder Schulamt oder der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg angemeldet. Dann erfahren sie, welcher staatlichen Schule sie für die Prüfung zugeordnet sind. „Von Februar bis Mai laufen bei uns die Vorbereitungen.“ Im Mai beginnt die Prüfungszeit. „Wir treffen uns dann morgens und fahren gemeinsam hin.“ Jemand von „Prejob Dortmund“ wartet vor der Tür und nimmt die Teilnehmenden anschließend wieder in Empfang. Das sei besonders wichtig, „wenn eine Prüfung in den Sand gesetzt wurde“, betont Riesel. „Dann ist jemand da, der sie auffängt und beruhigt.“

Auch Oliver steht bald vor der Abschlussprüfung. Und was will er nach der Mittleren Reife machen? „Ich will das Abitur nachholen“, sagt der 22-Jährige. Riesel traut ihm das zu. „Wer den Glauben an die Zukunft wiedergewonnen hat, der will weiterkommen“, erklärt Riesel. „Dafür ist Oliver ein gutes Beispiel.“