Auf einmal sprang einer der Erstklässler auf und rannte durch die Klasse; gleich mehrere Kinder folgten ihm. „Da wusste ich wirklich nicht, was ich machen sollte“, sagt Malte Feder, „nach der Stunde saß ich schweißgebadet im Lehrerzimmer.“ Dabei ist Feder, der seinen echten Namen nicht gedruckt lesen möchte, ausgebildeter Pädagoge. Doch seit einigen Monaten unterrichtet der niedersächsische Gymnasiallehrer drei Tage pro Woche an einer Grundschule. In einer heterogenen Klasse für Ruhe zu sorgen, darauf zu achten, dass die Förderkinder ihre individuellen Lehrpläne einhalten – „ich hatte schon immer großen Respekt vor der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen, aber nun weiß ich wirklich, wie fordernd das sein kann“, sagt Feder. Wie ihm geht es knapp 2.900 Lehrkräften, die im vergangenen Schulhalbjahr von anderen Schultypen an die Grundschulen des Flächenlandes abgeordnet waren. Denn dort ist der Druck auf die Politik am stärksten, für verlässlichen Unterricht zu sorgen.
Glücklich mit der Zwangsumsetzung von Lehrkräften ist niemand, auch nicht der oberste Dienstherr. „Abordnungen sind nichts, das wir dauerhaft haben möchten“, erklärte Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) dem NDR. Er leitet das Ressort seit der Wahl im Herbst 2017. Das Problem Fachkräftemangel hat er von seinen Vorgängerinnen und Vorgängern, zuletzt war das seine Parteikollegin Frauke Heiligenstadt, geerbt. „Die Unterrichtsversorgung gewährleisten“ nannte der Rechtsanwalt und vierfache Vater nach der Amtsübernahme als eines seiner wichtigsten Themen. Helfen solle ein „Mix ganz verschiedener Maßnahmen“, so erklärte es Tonne gegenüber der E&W Niedersachsen*. Ein wichtiger Faktor seien Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, zudem solle der Beruf „durch gute Bedingungen attraktiv gemacht werden“ – dazu zähle auch „gute Bezahlung“. Im Dezember 2017 legte Tonne den Entwurf eines neuen Schulgesetzes vor, das im März mit der rot-schwarzen Mehrheit im Landtag beschlossen wurde.
„Ich berate, ich unterstütze die Klassenlehrkräfte, ich kümmere mich um die Kinder mit Förderbedarf, ich schreibe Gutachten – lauter wichtige Aufgaben, aber eigenständig eine Klasse unterrichten darf ich nicht.“ (MaLou Romberg-Ogertschnig)
Drei Punkte waren im Vorfeld umstritten: Erstens wird das Einschulungsalter flexibler. Kinder, die kurz vor oder nach Schuljahresbeginn sechs Jahre alt werden, können von ihren Eltern auch ein Jahr später in den Unterricht geschickt werden. Zweitens bremst Niedersachsen das Tempo der Inklusion. Grundsätzlich bleibt das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung zwar bestehen – damit setzte sich die SPD gegen die CDU durch, die die Inklusion aussetzen wollte. Allerdings können Eltern und Schulträger für ihre Region beschließen, die Förderschulen für Lernschwache zu erhalten. Damit laufen bis mindestens zum Schuljahr 2022/23 Regel- und Fördersysteme parallel. Drittens wird die Sprachförderung von Vorschulkindern allein den Kitas übertragen. Damit stehen den Grundschulen rechnerisch 500 Lehrkräftestellen mehr zur Verfügung.
Die Opposition sah wenig Gutes: „Faule Kompromisse, falsche Weichenstellungen, mangelnde Beteiligung“, sagte die Grüne Julia Willie Hamburg in der Landtagsdebatte im Januar. Sie kritisierte besonders die Bremse bei der Inklusion. Angesichts der schlechten Ausstattung der inklusiven Regelschulen „haben die Eltern von Kindern mit Förderbedarf eben keine Wahl mehr, sondern müssen die Kinder in Parallelsysteme geben. Das ist Exklusion“.
Dass weiter zweigleisig gefahren wird, statt die Inklusion richtig voranzutreiben, bemängelt auch MaLou Romberg-Ogertschnig. Die Sonderpädagogin mit den Fächern Mathe und Sachunterricht ist zurzeit an eine Grund- und Oberschule in Hameln abgeordnet – eine Regelschule. Allerdings werde sie dort nur mit bestimmten Aufgaben betraut: „Ich berate, ich unterstütze die Klassenlehrkräfte, ich kümmere mich um die Kinder mit Förderbedarf, ich schreibe Gutachten – lauter wichtige Aufgaben, aber eigenständig eine Klasse unterrichten darf ich nicht.“ Dabei sei das doch eigentlich ihr „Kerngeschäft“, meint die Hannoveranerin. Zwar könnte sie sich über einen Lehrgang zur Grundschulpädagogin weiterbilden. „Dann allerdings dürfte ich nicht mehr beratend oder diagnostisch tätig sein, was mir aber ebenfalls am Herzen liegt.“ Das Gleiche gilt für den Leitungsposten: Ein Lehrgang – und aus einer Sonderschulkraft wird die Chefin der Schule, an der sie zurzeit keine einzige Stunde im Alleingang unterrichten darf. „Das ist einfach verrückt“, sagt Romberg-Ogertschnig.
„Trotz des massiven Lehrkräftemangels findet sich kein Ansatz in der Politik, die Ausbildung für das Lehramt zu reformieren.“ (MaLou Romberg-Ogertschnig)
Ein Problem sei, dass die Lehrkräfteausbildung nicht mehr zu den neuen Anforderungen und der neuen Schullandschaft passe. Niedersachsen bildet noch klassisch für Gymnasium, Real-, Grund- und Förderschule aus. „Trotz des massiven Lehrkräftemangels findet sich kein Ansatz in der Politik, die Ausbildung für das Lehramt zu reformieren“, sagt die Pädagogin. Im Studium werde zu viel Wert auf die Fachwissenschaft gelegt und zu wenig auf die Frage, „wie ich das Wissen an den Schüler bringe. Und ausgerechnet wir Förderlehrkräfte, die in unserer Ausbildung am besten darauf vorbereitet werden, von jedem einzelnen Kind aus zu denken, unterrichten am wenigsten“.
Björn Försterling, bildungspolitischer Sprecher der FDP im Landtag, hat zwar nichts dagegen, dass Förderschulen länger erhalten bleiben – die Liberalen halten sie für einen „Teil der Lösung, nicht das Problem“. Aber die Kritik am Gesetz und am Minister teilt Försterling: „Die Große Koalition verpasst den notwendigen Neustart in der Bildungspolitik.“ Dafür werden Löcher gestopft. Die Landesregierung schrieb im vergangenen Herbst 1.200 Lehrerstellen aus und öffnete diese auch für Quereinsteiger. Die dürfen neuerdings auch dauerhaft an Grundschulen unterrichten. Zum zweiten Schulhalbjahr kamen 1.070 Lehrkräfte, darunter 121 Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, zusätzlich in die Klassenzimmer. Das Kultusministerium will darüber hinaus 1.000 Stellen entfristen. Ob das reicht? Tonnes Vorgängerin Heiligenstadt hatte angekündigt, sie wolle 2018 3.000 Lehrkräfte einstellen, um die „Zielmarke von 100 Prozent Unterrichtsversorgung“ zu erreichen.
Immerhin 99 Prozent konnte das Land im Februar 2018 verkünden: „Das ist ein kleiner Schritt, aber einer in die richtige Richtung“, kommentierte Kultusminister Tonne. Ziel sei weiter, „in Schlagdistanz zu den 100 Prozent bei allen Schulformen zu kommen“. 100 Prozent bedeuten allerdings nicht mehr, als dass die Stundentafel rechnerisch abgedeckt ist. Ausfallzeiten von Lehrkräften etwa durch Krankheit sind dabei nicht mit eingerechnet. Es gibt null Vertretungsreserve.
„Wir gehen nun auch den juristischen Weg, weil es von politischer Seite bisher noch nicht einmal ein Signal für eine umfassende Entlastung unserer Kolleginnen und Kollegen gibt.“ (Laura Pooth)
Zurzeit verteilen sich die Lehrkräfte in Niedersachsens komplizierter Bildungslandschaft mit sechs weiterführenden Schularten sehr unterschiedlich. An einem Stichtag im August 2017 erfasste das Land die Unterrichtsversorgung. Demnach waren die Gymnasien statistisch mit 100,7 Prozent am besten versorgt, am schlechtesten die Förderschulen mit nur 93 Prozent.
Vergleichsweise gut schnitten auch die Grundschulen ab: 100,6 Prozent Unterrichtsversorgung. Erreicht wird dieses Ergebnis nach Berechnungen der GEW aber auch durch die Mehrarbeit der Grundschullehrkräfte. Im Namen zweier Mitglieder hat die Gewerkschaft im Januar Klage gegen das Land eingereicht: Die Grundschullehrkräfte arbeiteten mehr als 50 Stunden pro Woche – auf das ganze Jahr inklusive der Ferien berechnet. „Wir gehen nun auch den juristischen Weg, weil es von politischer Seite bisher noch nicht einmal ein Signal für eine umfassende Entlastung unserer Kolleginnen und Kollegen gibt“, sagt GEW-Landesvorsitzende Laura Pooth. Im Kern gehe es um eine neue Arbeitszeitverordnung für Lehrkräfte, „die dringend zeitliche Entlastungen schaffen muss", betont Pooth. Offenbar brauche die Politik juristische Fakten und weiter gewerkschaftlichen Druck, um zu handeln.
Wie viele Lehrkräfte im kommenden Schuljahr abgeordnet werden, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Gymnasiallehrer Feder sieht es pragmatisch, falls es ihn wieder treffen sollte: „Wir alle werden vom Land für die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen bezahlt. Wenn es in einem Bereich so massive Lücken gibt, hat das Land das Recht, seine Beamten zur Hilfe heranzuziehen.“
Niedersachsen in Zahlen: |
- Im Schuljahr 2017/18 gibt es 2.640 öffentliche allgemeinbildende und 135 berufsbildende Schulen.
- Insgesamt werden 837.500 Mädchen und Jungen unterrichtet, rund 10.000 weniger als 2016.
- Rund 80.100 Lehrkräfte sind an den allgemein- und berufsbildenden Schulen tätig.
- 2.732 Lehrkräfte wurden zum 1. Februar abgeordnet, darunter 704 Gymnasialkräfte, die an Grundschulen unterrichten.
- 22 Millionen Euro hat das Land im Haushalt veranschlagt, um 1.000 Lehrerstellen zu entfristen.