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Covid-19

Learning by Doing

Ist die Corona-Pandemie der Katalysator für die Digitalisierung von Bildungsprozessen? Ein Weckruf für eine andere Bildung? Zwei Wissenschaftler des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft in Berlin suchen nach Antworten.

Foto: imago images/Jochen Tack

Und sie haben recherchiert, wie die Digitalisierung der Bildung in China gestaltet wird. E&W sprach mit Gergana Vladova und André Renz über erste Ergebnisse, ihre Erwartungen und Einschätzungen.

  • E&W: Kitas, Schulen, Hochschulen sind seit Mitte März geschlossen, jetzt heißt es „Lernen daheim“: Sie sehen darin eine Chance. Warum?

André Renz: Die Krise zwingt uns, den gewohnten Alltag zu unterbrechen. Normalerweise nehmen wir uns nur selten den Raum und die Zeit, um Neues auszuprobieren. Aber plötzlich ändern sich viele gewohnte Alltagssituationen, zum Teil radikal. Wir müssen anders denken; bildlich gesprochen in andere Räume eintreten. Bildung ist per se sehr tradiert und gilt als wenig innovationsfreudig. Da Kitas, Schulen und Hochschulen nun geschlossen sind, müssen auch diese Institutionen ihre Konzepte anpassen, zumindest temporär.

Gergana Vladova: Natürlich ist die Ausgangssituation für eine schnelle Umstellung zum komplett digitalen Lernen nicht optimal. Normalerweise braucht es passende didaktische Konzepte, gut vorbereitete Lehrkräfte, eine strategische Vorgehensweise und klare Richtlinien. Kurz gesagt: einen Plan für den abgestimmten Einsatz von Mensch, Organisation und Technik. An vielen Stellen im Bildungsbereich haben wir so etwas nicht in einer ausgereiften Form. Aber wir hatten allesamt keine andere Wahl, als mit Learning by Doing zu starten. Das macht aber eine mutigere Vision für die digitale Zukunft der Lehre greifbarer.

Renz: Natürlich bringt dieser Ad-hoc-Zugang auch Herausforderungen mit sich. Viele Akteure in der Bildung sind nicht vorbereitet und fühlen sich mit der aktuellen Situation überfordert. Ein optimaler Umstieg bzw. Einstieg in eine volldigitalisierte Lehre sollte sich bestenfalls weniger radikal gestalten.

  • E&W: Vor der Corona-Krise nahm das Lernen für die digitale Welt recht langsam Fahrt auf ...

Vladova: Ja. Es geht jetzt um die Bereicherung der Möglichkeiten in der Lehre. Das ist die Chance für jeden Beteiligten, den eigenen Werkzeugkasten zu erweitern. Die unausweichliche Notwendigkeit, zurzeit digitalen Unterricht anzubieten, ist positiv zu sehen, da Lehrende sehr schnell ihre Kompetenzen aufbauen. Es geht allerdings nicht darum, den Präsenzunterricht danach komplett abzuschaffen, sondern vielmehr um konkrete Erfahrungen auf der Suche nach der richtigen Balance.

Längst ist die Digitalisierung auch im Bildungsbereich angekommen. Die Position der GEW ist dabei klar: Um die Schulen für das digitale Lernen fit zu machen, braucht es nicht nur eine gute technische Ausstattung, sondern vor allem entsprechende pädagogische Konzepte und gute Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte. Das vor knapp einem Jahr gegründete „Bundesforum Bildung in der digitalen Welt“ der GEW erarbeitet dazu derzeit Empfehlungen. So wird unter anderem gefordert, eine medienpädagogische Grundbildung für alle Bildungsphasen curricular zu verankern. Dazu gehört ein kritisch-konstruktiver Umgang mit digitalen Medien und Tools und nicht allein der Erwerb technischer, informatischer und wirtschaftlich verwertbarer Fertigkeiten. Ziel muss die Bildung mündiger und verantwortungsbewusster Bürgerinnen und Bürger sein. Wichtig ist zudem, dass die Einführung digitaler Technik und Lernformen von den Ländern und der Kultusministerkonferenz so gewährleistet wird, dass dem schleichenden Einfluss von Lobbyverbänden der Digitalwirtschaft auf den Prozess entgegengewirkt wird. Um Lehrkräfte in die Lage zu versetzen, mit digitalen Medien zu arbeiten und medienpädagogische Grundlagen zu vermitteln, müssen sie selbst über diese verfügen. In allen Phasen der Lehrkräfteaus- und -fortbildung sind daher entsprechende Bestandteile zu integrieren.

Jürgen Amendt, Redakteur der „Erziehung und Wissenschaft“

  • E&W: Chats mit den Lernenden, E-Mail-Kontakte, Schul-Clouds, Online-Kurse oder Lernvideos sind das eine, wie sieht es aber mit den pädagogischen Konzepten für deren Nutzung aus?

Renz: Prinzipiell sollten wir zwei Ebenen von pädagogischen Konzepten unterscheiden – die Entwicklungs- bzw. Konstruktionsebene und die Einbindung der digitalen Lehr- und Lernangebote in den Unterricht. Auf der ersten Ebene ist die Trias aus Technik, Pädagogik und Inhalt tatsächlich bei sehr vielen EdTech*-Lösungen noch nicht in der gewünschten Balance. Mithilfe von Learning Analytics (Messen, Sammeln und Analysieren von Daten des Lernverhaltens) kann die Trias ausgeglichener zu Gunsten von Inhalt und Pädagogik gestaltet werden, um den Lernerfolg zu verbessern.

Vladova: Für die Einbindung digitaler Lehrmethoden gibt es noch keine ausgereiften und langfristig bewährten pädagogischen Lösungen. Hier müssen wir aber unterscheiden – gerade werden die Konzepte ad hoc und für den Extremfall entwickelt. Aufgabe der Lehrenden ist es zu evaluieren, wo die Grenzen sind, welche Dynamiken sich entwickeln, welche Bedürfnisse bestehen usw. Zum pädagogischen Konzept gehört mehr als die Nutzung technischer Kanäle oder Medien. Was nicht funktioniert, ist die Methoden des Präsenzunterrichts eins zu eins in die digitale Welt zu „übersetzen“.

  • E&W: Sie haben Interviews zur digitalen Bildung unter anderem in China geführt. Was ist dort anders, was gleich?

Vladova: Die Herausforderung ist für alle gleich: Alle fragen sich, ob sie jetzt richtig handeln. Die Technik ist dabei die geringste Hürde. Aber es gibt die gleichen offenen Fragen mit Blick auf Organisations- und Infrastruktur sowie Kompetenzen der Lehrenden. Insbesondere in den Schulen ist gerade die richtige Zeit, Kompetenzlücken zu finden und zu schließen. Da wurde zwar immer viel diskutiert, aber zu wenig konkret weitergebildet. Das könnte sich nach den Erfahrungen jetzt ändern, jede Maßnahme ist von Bedeutung. In China gab es ganz schnell Handbücher für die Lehrenden sowie Krisenstäbe zur schnellen Organisation mit klaren Verantwortlichkeiten, die die Veränderungen in den Schulen konkret begleiten. In Deutschland wird immer noch – ersten Gesprächen zufolge – sehr stark auf individuelle Lösungen gesetzt, in der Erwartung, dass es nach dem Schreck wieder so wie früher weitergeht.

Renz: Natürlich bilden sich aber auch bei uns zunehmend Initiativen für gemeinsame Strategien und Leitlinien heraus. Zum Beispiel hat Rheinland-Pfalz einen ersten Leitfaden „Anregungen und Pädagogisches Angebot für den onlinegestützten Unterricht während der Schulschließung“ herausgegeben.

  • E&W: Ist Corona wirklich der Wendepunkt für Online-Lernen?

Vladova: Für die Hochschulen ist die Wende unaufhaltsam. Nur 6 Prozent der von uns befragten Hochschullehrer sehen sich nicht in der Lage, digitales Lernen anzubieten. Viele sind bereit für die Umstellung innerhalb kürzester Zeit. Dabei sind die Unterschiede von Fach zu Fach zu berücksichtigen – Lerninhalte und -formen lassen sich unterschiedlich gut in das Digitale übertragen.

Renz: Am Bildungsmarkt konnten sich viele EdTech-Unternehmen, die innovative Bildungstechnologien anbieten, bislang nur schwer neben den traditionellen Anbietern von Bildungsprodukten positionieren. Jetzt beobachten wir eine extreme Öffnung des Marktes für digitale Bildungsprodukte. Die Unternehmen versuchen jetzt, aus der Nische des Nachmittagsmarktes herauszukommen und sich mit niedrigschwelligen Angeboten auch in Schulen fest zu etablieren. Natürlich gibt es viele Bedenken gegen diese digitalen Angebote: Datenschutz, Finanzierungsmodelle, fehlendes technisches Personal usw. Deshalb müssen wir intensiv untersuchen, ob und wie dieser Wandel zielführend für alle Beteiligten gelingen kann.

Durch ihre Forschungskontakte zu Hongkong, Wuhan und dem Goethe-Institut in Peking wurden die beiden Forschungsgruppenleiter am Weizenbaum-Institut in Berlin, Gergana Vladova und André Renz, früh mit den Folgen der Corona-Pandemie für die Bildung konfrontiert. Entstanden ist daraus ein Forschungsprojekt: „Die Coronakrise als Katalysator für die Digitalisierung von Bildungsprozessen“. Vom Stopp beim schulischen Unterricht und der Lehre an den Hochschulen waren die Akteure in Hongkong und Wuhan genauso überrascht, wie ihre Kolleginnen und Kollegen kurze Zeit später in Deutschland. „Auch in China war niemand auf einen totalen Bildungsstillstand vorbereitet.“ So entwickelte sich über Nacht riesiger Handlungsdruck, denn die Alternative – die Bildungsarbeit einzustellen – war keine Option.

So entstanden für das Team Vladova-Renz die ersten Forschungsfragen: Ist Deutschland auf die Schließung seiner Bildungseinrichtungen vorbereitet? Wie soll und wird damit umgegangen, welche Auswirkungen sind zu beobachten? Wie reagieren die einzelnen Akteure – Lehrende und Lernende? Wie ist die Entwicklung in anderen Ländern? „Im Februar, zu Beginn des Projekts, operierten wir noch mit hypothetischen Wenn-Dann-Fragen“, erinnert sich Vladova. Die Realität hat sie Mitte März eingeholt, dann kam der Bildungs-Shutdown in ganz Deutschland.

Im Mittelpunkt ihrer Forschung standen zunächst die Lehrenden an den Hochschulen, jetzt sind auch Schulen einbezogen. Weitere Projektschwerpunkte sind geplant, zum Beispiel Einblicke in die Situation der Familien der Lernenden, Erfahrungen der Studierenden sowie die Frage, ob und wie die EdTech-Unternehmen von der neuen Lage profitieren.       

Klaus Heimann, freier Journalist

  • E&W: Was geht eigentlich verloren in der schönen digitalen Bildungswelt?

Renz: Diese Frage ist berechtigt. Dazu ein Beispiel: Ich sitze in der Bibliothek und sehe, dass mein Nachbar Dostojewski liest, das macht mich neugierig, sodass ich auch ein Buch von diesem Autor in die Hand nehme. Im virtuellen Raum gestalten sich solche zufälligen Begegnungen anders. Gruppendynamische Prozesse sind online aktuell nur schwer zu konstruieren. Es ist ein großer Vorteil, dass gemeinsames Arbeiten nicht mehr an einen physischen Raum gebunden ist. Aber über die Folgen wissen wir wenig.

  • E&W: Die einen lernen, während die Netflix-Serie im Fernsehen läuft, andere Schüler haben ein eigenes Arbeitszimmer. Drohen Schülerinnen und Schüler aus armen oder bildungsfernen Familien den Anschluss zu verlieren?

Renz: Diese Frage kommt im Diskurs über digitales Lernen zunehmend öfter auf. Kinder, die vor der Krise in der Lage waren sich gut zu strukturieren und selbstständig zu lernen, kommen auch in der Krise häufig besser zurecht. Das ist anders bei Schülern, die strikte Vorgaben und Halt vom Lehrer brauchen. Ähnlich ist es bei Kindern, deren Eltern sie im Homeschooling bei den Aufgaben nicht unterstützen können. In diesen Fällen wächst die soziale Ungleichheit.

Vladova: Ein weiterer Punkt ist die Verfügbarkeit geeigneter digitaler Geräte in den Haushalten. In sozial benachteiligten Familien oder in Flüchtlingsunterkünften ist das ein Thema. Ebenso wenn mehrere Kinder in einer Familie gleichzeitig lernen wollen.

  • E&W: Brauchen wir die Krise als Weckruf für eine andere Bildung?

Vladova: Wir als Wissenschaftler bekommen die Möglichkeit, ungewöhnliche und neue Ereignisse und Situationen zu untersuchen. Auch die Lehrenden sollten möglichst viel Neues ausprobieren. Anderes wagen, das ist jetzt angesagt, ohne dabei zu vergessen, dass dies ein Extremzustand ist. Und vor allem auch kritisch bleiben, denn die Lehre, wie wir sie kennen, ist Teil einer sozial konstruierten Realität, für die in der virtuellen Welt noch kein vergleichbares Konstrukt existiert.

Renz: Fast alle Lehrenden haben jetzt intensivere Berührungspunkte zum digitalen Lernen. Ein souveräner Umgang bedarf aber oft mehr Zeit. Aus der Notwendigkeit und Dringlichkeit heraus wird im Augenblick viel improvisiert. Für die Zeit danach brauchen wir aber verlässliche Rahmenstrukturen und echte Perspektiven.

Gergana Vladova und André Renz (Foto: Weizenbaum-Institut/Esra Eres)