Kitaalltag
Lärm gehört dazu
Lärm in der Kita belastet nicht nur die Fachkräfte, sondern auch die Kinder. Mit baulichen Maßnahmen und pädagogischen Mitteln kann Lärm und damit Stress reduziert werden, wie ein Besuch in einer Kita in Berlin zeigt.
"Wir starten immer laut in den Tag“, sagt Andreas Bauch, lacht, holt Luft: „Wer will die Polonaise anführen?“ Ich, ich, ich, rufen Mila, Leandro, Cathalina und hüpfen und springen wie Gummibälle in die Luft. Heute darf Mila, die anderen haken sich ein, die Hände auf den Schultern des Kindes vor sich. Bauch tippt auf sein Tablet, die Musik spielt auf, „Los, los, los, wir machen ‘ne Polonaise …“. Hopsend schlängelt sich der Kinderzug durch Sportraum, Kreativ- und Bauzimmer, den Flur entlang zurück zum Sportraum. Außer Atem lassen sich zwei Handvoll Kinder auf die Matten fallen, Bauch schnappt Klangschale und Schlegel, plööng, „Leis, leis, leis, jetzt schließen wir einen Kreis“.
Fröbel-Kita Daumstraße, hoch oben im Nordwesten Berlins. Vor der Tür ist eine Baustelle, das neue Stadtquartier Waterkant bekommt noch den letzten Schliff, ein großer Spielplatz wird errichtet. Daneben toben Kinder durch den Kita-Garten, rufen, schreien, lachen, ein Bobbycar bollert über festen Grund, und in der Ferne kreischen Möwen über dem glitzernden Wasser der Oberhavel. Bauch, stellvertretender Kita-Leiter, nickt. „Lärm gehört dazu.“
„Gerade beim Sport kann der Pegel locker 80 Dezibel überschreiten.“ (Moritz Späh)
Keine Frage: Wo viele Kinder gemeinsam ihren Tag verbringen, wird es schnell laut. „Gerade beim Sport kann der Pegel locker 80 Dezibel überschreiten“, sagt Moritz Späh vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) in Stuttgart. Der Arbeitsschutz schreibt Gehörschutz bei einer Dauerbelastung dieser Art vor. „Aber eine Kita ist keine Maschinenhalle. Solche Pegel werden im Laufe des Tages nur phasenweise erreicht“, so Späh. „Aber auch eine halbe Stunde pro Tag über diesem Wert ist über die Jahre für die Kita-Fachkräfte eine gewaltige Belastung.“
Vor allem die „extra-auralen Belastungen“, wie es im Fachjargon heißt, können enorm sein, das heißt alle Auswirkungen des Lärms, die nicht das Gehör betreffen, sondern Psyche und Herz-Kreislauf. „Konzentrationsfähigkeit und mentale Gesundheit sind gefährdet, Stress und Nervosität nehmen zu“, so Uwe Hellhammer von der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen. Seit Jahren belegen Studien: Für etwa 90 Prozent der Fachkräfte in der Kita ist Lärm ein erheblicher Belastungsfaktor.
„Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache zum Beispiel sind auf eine sehr gute Raumakustik angewiesen, um die neue Umgebungssprache in der Kita optimal zu verstehen.“
Auch für die Kinder kann zu viel Lautstärke problematisch sein. Konzentriertes Spiel oder ruhiges Lesen sind für ihre Entwicklung genauso wichtig wie Toben und Bewegung. „Und Kinder mit nicht-deutscher Muttersprache zum Beispiel sind auf eine sehr gute Raumakustik angewiesen, um die neue Umgebungssprache in der Kita optimal zu verstehen“, sagt IBP-Wissenschaftler Späh. „Stören Nebengeräusche oder Nachhallzeiten die Übertragung der Sprachsignale, wird es schwieriger, je kleiner die Kinder sind. Denn diese können noch nicht durch den Blick auf die Lippenbewegung mangelnde Sprachqualität ausgleichen.“ Zum Glück, so Lärmexperte Hellhammer, habe sich das Bewusstsein für Lärmschutz verbessert, auch weil die gesetzlichen Vorschriften strenger geworden seien, etwa durch die Technischen Regeln für Arbeitsstätten „Lärm“ 2021.
Die Kita Daumstraße wurde vor drei Jahren eröffnet, 73 Kinder verbringen hier ihren Tag. Lärmtechnisch ist sie auf dem neuesten Stand, betonen Facility Manager Martin Müller und Geschäftsleiterin Beatrice Schmitt, die heute zur jährlichen Begehung gekommen sind. Heißt etwa: Dreifachverglasung und überall „Streulochdecken“, so nennt Müller die schallschluckenden Paneele mit Tausenden unterschiedlich großen Löchern. Gut für die Lärmreduktion ist auch die Gliederung der Einrichtung, kleinere Räume, mit Doppelflügeltüren verbunden, in denen sich Gruppen verteilen lassen, weite Fensterfronten zum Kinderrestaurant, das per Blickkontakt schnellen Austausch ermöglicht. Beim Jahrescheck prüfen Müller und Schmitt: Wo fehlt es noch? Vor zwei Jahren wurde das Bad nachgerüstet. Filzkreise an der Decke unterlegt mit Hohlräumen fangen nun den Schall von kollektivem Zähneputzen und Händewaschen auf.
Solche technischen Maßnahmen sind eine notwendige, solide Basis für den Lärmschutz im Kita-Alltag. Denn wo es leiser ist, verhalten sich auch alle leiser, statt sich in einer Spirale des gegenseitigen Übertönens zu übertreffen. Hellhammer von der Unfallkasse: „In den nächsten Schritten geht es um Alltagsorganisation und pädagogische Maßnahmen.“
Wohlkomponierter Wechsel von laut und leise
Die Strategie in der Daumstraße heißt: „Lärm nicht verbieten, sondern die Dynamik lenken“, so Pädagoge Bauch. Meint: Über den Tag verteilt einen wohlkomponierten Wechsel von laut und leise, von auspowern und entspannen inszenieren. Wie jetzt nach der Polonaise zum Tagesauftakt. Die Kinder haben sich auf den Matten niedergelassen. Plööng, noch mal tippt Bauch auf seine Klangschale, legt einen kleinen runden Teppich in die Kreismitte, darauf eine Kiste mit Zahlen und Buchstaben aus Holz. „Ich habe eine Stille-Übung mitgebracht. Jeder sucht sich eine Zahl oder einen Buchstaben aus und stellt ihn auf den Zauberteppich. Was macht ihr vorher mit der Stimme?“ Bauch legt den Finger auf den Mund und dreht die Hand, als würde sie ein Schloss verschließen. „Pssst“, sagen die Kinder und treffen schweigend ihre Wahl. Endlose Minuten lang. Plööng. „Richtig gut war das und richtig anstrengend, die Stimme so lange im Mund zu halten“, sagt Bauch. „Bevor wir uns eure Zahlen und Buchstaben genauer angucken, lasst uns hüpfen und laut sein.“ „Jaaaaa!“
Es ist dieses Wechselspiel, das den Alltag in der Daumstraße durchzieht. Wenn Fachkraft Matthi Denneler mit einer Gruppe eine Ratsche schwingend zur Gemüsepause zieht: „Tsch, tsch“ wie eine Eisenbahn macht die Kinderreihe hinter ihm. Wenn Kollegin Vanessa Haase eine Leserunde zusammenholt und mal mit heller leiser, mal lauter dunkler Stimme Wolf, Hase und Drachenkind in einer Geschichte zum Leben erweckt. Wenn Bauch die Achatschnecke Speedy zur Streicheleinheit aus dem Terrarium nimmt und erinnert, „ist es ihr zu laut, zieht sie sich in ihr Haus zurück“. Manchmal führt er eine Gruppe zum Händewaschen ins Bad neben der Krippe – „Worauf müsst ihr achten, meine Lieben?“ – „Leise sein, damit wir die Kleinen nicht stören“, sagen die Kinder dann.
Diese Sensibilisierung gehört zum Konzept. Wem wird es zu viel? Woran kann ich das erkennen? Ein Kind hält sich die Ohren zu oder weint. Bauch selbst entspannt und kräftigt seit einem halben Jahr mit der sogenannten Lax-Vox-Methode seine Stimme: mit einem kleinen Schlauch im Wasserglas gurgeln, die Vibrationen massieren den Kehlkopf. Das hilft gegen die Dauerheiserkeit, zu der das häufige Modulieren beim Vorlesen, der Wechsel von leisem Sprechen und lauten Ansagen, bei ihm geführt hatte.
Geräusche filtern, um das Wesentliche rauszuhören
Jede Fachkraft hat eigene Strategien entwickelt, um sich zu schützen. Ist Haase im Bauzimmer, ist das Spiel mit den großen, bunten Schaumstoffformen tabu. „Das wird mir zu laut.“ Längst hat Haase gelernt, Geräusche „zu filtern, um das Wesentliche rauszuhören“. Wenn etwa Polizeiwagen durch den Raum sausen, begleitet vom Sirenengeheul der Kinder – entsteht da hinten nicht ein Streit? Weint ein Kind? Kollege Denneler trägt Ohrstöpsel am Schlüsselbund. „Bei Bedarf kann ich so zwischendurch ein paar Dezibel runterregeln.“
Zum gemeinsamen Konzept gehört eine weitere Strategie: kluges Verteilen. Statt 20 Kinder im Bewegungsraum, besser zehn drinnen, zehn draußen. Statt stille Runden nur im Bastelzimmer anzubieten, auch Picknickdecken oder Gartentischchen für Karten- und Brettspiele einplanen, bei schönem Wetter steht ein Mal-Wagen bereit. Denneler: „Und wenn der Spielplatz vor unserem Garten fertig ist, können wir mit den Großen auch mal dahin ausweichen.“
11.30 Uhr, Zeit für den Mittagstisch, heute gibt es Tomatensuppe mit Croutons. Serviert wird in drei Gruppen und kleinen Tischrunden statt an langen Tafeln. Vorher versammeln sich die Kinder zum Runterkommen im Ruhekreis. Nochmal mit den Füßen stampfen, dann austauschen: Wie lief euer Tag bisher? Danach geht es ins Kinderrestaurant. Andreas Bauch verteilt die Suppe in Schüsseln. „Noch etwas Röstbrot?“ Mila nickt und balanciert das Essen zu ihrem Tisch. Ein Gewirr von Kinderstimmen erfüllt den Raum, es klingt wie in einem Restaurant. „Sich bei Tisch zu unterhalten, gehört in vielen Kulturen dazu, selbst wenn es mal etwas lauter werden sollte“, sagt Bauch. „Danach geht es ohnehin wieder in die Ruhephase.“ Schlummern, auf Matten dösen, lesen. Einfach entspannt und leise.