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Länderserie Inklusion: Thüringen - Grummeln in Jena

In der E&W-Länderserie Inklusion schauen wir im Oktober nach Thüringen. In der 100000-Einwohner-Universitätsstadt Jena hat die Inklusionsquote fast 80 Prozent erreicht. Die Kolleginnen und Kollegen dort sind aber alles andere als zufrieden.

In der E&W-Länderserie Inklusion schauen wir im Oktober nach Thüringen. In der 100 000-Einwohner-Universitätsstadt Jena hat die Inklusionsquote fast 80 Prozent erreicht. Die Kolleginnen und Kollegen dort sind aber alles andere als zufrieden.

Die Idee der Inklusion hat ein Zuhause: Jena. Die kleine, feine Metropole im Osten Thüringens ist eine Hochburg der Reformpädagogik. Unter den rund 30 Schulen gibt es im Grunde keine Regelschule ohne Inklusion mehr. Schon 1927 hatte hier der später umstrittene Pädagoge Peter Petersen das reformerische Konzept der Jenaplan-Schulen begründet. 1990 machten sich Jenaer Lehrkräfte und Kommunalpolitiker gemeinsam auf den Weg, neue Schulkonzepte umzusetzen. Wie an der Integrierten Gesamtschule (IGS) „Grete Unrein“. Hier bemühen sich Schulbegleiter, Förderschullehrkräfte, Sozialpädagogen gemeinsam mit den Lehrkräften um jedes der mehr als 50 Kinder mit unterschiedlichem Förderbedarf in den Klassen 5 bis 10.

In Klasse 6a meldet sich Sarah eifrig. Zum griechischen Begriff des „Labyrinths“ kann die Zwölfjährige etwas erzählen. Schräg hinter ihr sitzt Schulbegleiterin Susanne Windisch und macht sich Notizen. Sie hilft dem Mädchen immer, wenn es mal nicht weiter weiß, eine Aufgabe nicht verstanden hat oder ihr alles zu viel wird. Sarah hat das Asperger-Syndrom, Kommunikation, soziale Kontakte, ja Freundschaften fallen ihr mit dieser Form des Autismus schwer.

Windisch, die Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie studiert hat, übersetzt und sortiert die Dinge für Sarah – oder eben umgekehrt für die anderen Kinder und Lehrkräfte. „Ich bin für sie ein Bindeglied“, sagt die 31-Jährige. Ähnlich geht es ihrem Kollegen Alexander Knüpfer, der im Nebenraum den elfjährigen Alexander unterstützt. Der Junge mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist nervös und findet gerade seine Hausaufgaben nicht im Ranzen. „Viele Reize lenken ihn ab, da muss man ihn immer wieder an Dinge erinnern, sie erklären, diskutieren“, erzählt Knüpfer. Der Elfjährige und der 27-Jährige verstehen sich dennoch gut, nur manchmal ist Alexander auch von seinem Begleiter genervt: „Wenn es nicht nach meinem Kopf geht“, sagt er unverblümt. Aber wenn ihm wirklich alles zu viel wird, gehen die zwei einfach auf den Pausenhof und spielen Basketball.

Hilfe durch Schulbegleiter

Drei Schulbegleiter sind derzeit an der IGS tätig. Sie stehen Kindern mit Förderbedarf zur Seite, die sonst dem Schulalltag nicht folgen oder den Unterricht schnell sprengen könnten. Sie unterstützen die Lehrkräfte in den Klassen, damit Inklusion überhaupt gelingen kann. „Wir stehen zur Inklusion und wollen sie“, betont Schulleiter Rüdiger Schütz. „Aber wir haben auch eine Menge Probleme damit.“ Top-down, von oben nach unten, sei die Inklusion ab 2009 durchgepeitscht worden: „Das kam wie ein Donnerschlag.“ Im Jahr zuvor habe die Behörde der Schule noch den Einbau eines Fahrstuhls verweigern wollen. Jetzt werde alles versucht, um Kinder mit Förderbedarf zu integrieren.
Fast zehn Prozent der 580 Schülerinnen und Schüler haben einen besonderen Förderbedarf. „Aber es fehlt an personellen und räumlichen Ressourcen“, kritisiert Schütz. Vier Förderschullehrkräfte, die stundenweise noch an anderen Standorten arbeiten, reichten nicht aus, um den Gemeinsamen Unterricht sinnvoll zu praktizieren. Krankheiten und andere Ausfälle im Kollegium belasteten die ohnehin prekäre Personalsituation zusätzlich. „Wenn wir zwei Pädagogen pro Klasse hätten, ginge es vielleicht.“ Außerdem fehle es an zusätzlichen Räumen. „Wir bräuchten für jede Klasse zwei Zimmer, um Kinder auch individuell betreuen zu können. Tatsächlich haben wir für die ganze Schule nur zwei Extra-Räume, die wir nutzen können.“

Trotz knapper Mittel schreibt das Thüringer Förderschulgesetz den Vorrang des Gemeinsamen Unterrichts generell vor. Das heißt: Mädchen und Jungen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sollen möglichst zusammen mit anderen Kindern beschult werden. Je nach Schweregrad der Behinderung gibt es zusätzliche Personalressourcen. Weil der pauschale Anspruch der Politik in der Realität kaum durchzuhalten ist, hatte die schwarz-rote Landesregierung 2013 ein neues Konzept zur Inklusion vorgelegt. „Der Entwicklungsplan verordnet kein Einheitssystem für alle, sondern berücksichtigt die unterschiedlichen Ausgangslagen der Schulen“, betont das Bildungsministerium. Und: „Bei diesem Entwicklungsprozess steht für uns nicht die Geschwindigkeit, sondern die Qualität an erster Stelle. Ziel ist es, für jedes Kind die bestmöglichen Lernbedingungen zu finden.“ So wird jedes Kind mit Handicap vor der Einschulung individuell begutachtet. In Streitfällen können sich Eltern an einen „Ombudsrat Inklusion“ wenden.

Der Freistaat, beklagt Schulleiter Schütz, habe zwar die Einführung der Inklusion sehr ambitioniert vorangetrieben – hinke aber weit hinterher, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. „In anderen Ländern lässt man sich damit mehr Zeit.“ Inklusion bedeute für die Lehrkräfte, so Schütz, ein komplettes Umdenken und Umstellen des Unterrichts. Darauf seien viele nicht vorbereitet, und dafür werde es wohl noch eine ganze Lehrergeneration brauchen, glaubt der Schulleiter. Für körperliche Beeinträchtigungen ließen sich oft technische Lösungen finden – aber bei Mädchen und Jungen mit Schwächen in der sozialen und emotionalen Entwicklung wie Sarah und Alexander helfen nur langfristige Begleitung und Förderung.

Die ehemaligen Förderschullehrkräfte, die heute an der Grete-Unrein-Schule arbeiten, sind unzufrieden: „Wir bringen den Kindern unter diesen Rahmenbedingungen viel zu wenig bei und konfrontieren sie im Gemeinsamen Unterricht täglich damit, was sie alles nicht können.“ Die Folge: „Die Kinder sind frustriert – und wir auch.“ Dennoch bemühen sich die Pädagoginnen und Pädagogen um gute Lösungen für jeden einzelnen Heranwachsenden. Jede Woche werden in Dienstberatungen Einzelfälle durchdekliniert und individuelle Regelungen vereinbart. In einem Punkt sind sich alle im Kollegium aber einig: Wenn die personelle Ausstattung besser wäre, könnte man die Kinder noch viel besser unterstützen.