Niemand hat nach ihr gefragt in der Siedlungsgrundschule Bad Dürrenberg im Süden Sachsen-Anhalts, die Inklusion kam einfach. Das ist fast vier Jahre her. Nun wird sie hier täglich intensiv gelebt. Wie im Deutschunterricht der Klasse 1b, morgens um 9.40 Uhr.
Kerstin Schmidt hält einen großen braunen Briefumschlag wie eine Wundertüte in die Luft, liest ihn betont langsam vor. Der Brief ist vom „B“. Wenn die quirlige Lehrerin den Buchstaben laut und deutlich ausspricht, formt sie Daumen und Finger zu einem Kreis vor ihren Lippen, der wie eine Seifenblase davonfliegt. Die Lautgebärden helfen den Kindern – egal, ob mit oder ohne Förderbedarf – das „B“ aufzunehmen und eine Brücke zwischen dem Buchstaben und seinem Klang zu schlagen. Je sechs Jungen und Mädchen, davon vier Inklusionskinder, machen es der Lehrerin begeistert nach. Dann werden Bilder von Ball, Buch, Brille, Bett und Bär im Stuhlkreis auf dem Boden verteilt, besprochen und an die Tafel gehängt, schließlich unterschiedliche Arbeitsblätter für die individuellen Leistungsstände der Kinder verteilt: Schreiben lernen mit allen Sinnen.
Im Stuhlkreis sitzen zudem: eine Praktikantin und Andrea Bahr, eine „Bürgerarbeiterin“. Die 29-jährige gestaltungstechnische Assistentin hatte vor drei Jahren zwar keinen Job, aber im Modellprojekt des Bundes eine neue Aufgabe gefunden. Anfangs waren sie zu viert an der Schule, ein Bürgerarbeiter wurde schon wieder entlassen, die anderen Stellen laufen mit dem Modell im Sommer aus.* Ein großer Verlust, findet das Kollegium. Denn Bürgerarbeiterinnen und -arbeiter wie Bahr sind eine wichtige Stütze des Unterrichts geworden. Bahr lobt, tröstet, erklärt, hört den Kindern zu, bei denen Schmidt gerade nicht sein kann. „Man kann sich ja nicht zerreißen“, sagt die erfahrene Lehrerin, die seit 35 Jahren im Schuldienst arbeitet und seit vier Jahren verpflichtet ist, inklusiv zu unterrichten. Zur Inklusion kam sie „wie die Jungfrau zum Kind“.
„Ihr schafft das schon“
Damals, im Sommer 2010, hatten sich gleich sechs Familien des Kurstädtchens unabhängig voneinander entschieden, ihre Kinder mit Förderbedarf für den Gemeinsamen Unterricht (GU) in der Regel- statt in einer Förderschule anzumelden. „Und wie haben wir uns auf die Beschulung vorbereitet?“, fragt Schulleiterin Ina Herfurth rhetorisch. „Gar nicht! Keiner hat gefragt, ob die personellen, räumlichen und sachlichen Voraussetzungen bei uns vorhanden sind. Frei nach dem Motto: Ihr schafft das schon.“ Und das tun sie. Sie haben die 1. Klasse aufgeteilt, um besser für alle Kinder da zu sein. Dabei haben sie nicht mal genügend Extra-Räume. Also wird auch im Zimmer der Schulleiterin oder im Arztzimmer Förderunterricht in Kleinstgruppen erteilt.
„Wir üben uns täglich im Spagat zwischen individueller Bildung und verbindlichen Standards. Dafür müssten die Rahmenbedingungen viel besser sein, sich an den Schülerinnen und Schülern orientieren und nicht umgekehrt“, unterstreicht Herfurth. Die Siedlungsgrundschule versucht, damit und mit viel persönlichem Einsatz zurechtzukommen – und ist auf diese Weise zu einer Art Pilgerort für Kinder mit Förderbedarf geworden. Von den heute 99 Schülerinnen und Schülern stellen mittlerweile 48 besondere Anforderungen an die Lehrkräfte: Neben den 17 Kindern mit attestiertem Förderbedarf haben rund 30 Mädchen und Jungen andere Handicaps, etwa Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS), Dyskalkulie (Rechenschwäche) oder ein Migrations-Elternhaus, in dem kein Deutsch gesprochen wird. Die Schulleiterin hat sich gekümmert und reichlich Unterstützung organisiert: Heute ist ihre Schule eine der wenigen zertifizierten Inklusionsschulen in Sachsen-Anhalt. Damit bekommt sie immerhin 45 statt nur 34 sogenannte GU-Stunden für Förderunterricht zugeteilt. Eine Schulsozialarbeiterin in Vollzeit und die „Bürgerarbeiter“ gehören ebenso zum Kollegium wie die acht Stammlehrerinnen, die jeden Tag offen über ihre ständig neuen Aufgaben diskutieren können. „Wenn die Arbeitsbedingungen für das Kollegium nicht akzeptabel wären, würden wir gesundheitlich auf der Strecke bleiben“, sagt Lehrerin Schmidt.
Die Schule ist ein Paradebeispiel für die Entwicklung in dem östlichen Bundesland. Denn in Sachen Inklusion hat Sachsen-Anhalt zuletzt enorm aufgeholt. Vor zehn Jahren dümpelte die Inklusionsquote bei nur zwei Prozent vor sich hin, heute beträgt sie 27 Prozent. Doch erst Anfang 2013, nach einem Modellversuch an Grundschulen, beschloss die schwarz-rote Landesregierung ein Konzept, um den GU qualitativ zu erweitern und schrittweise die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen zu senken, berichtet der Sprecher des Kultusministeriums, Martin Hanusch, und tritt zugleich auf die Bremse: Die Umstellung erfolge „behutsam und mit Augenmaß“, um Sorgen und Ängste der Lehrkräfte und Eltern aufzunehmen. Dennoch würden mittlerweile die förderpädagogischen Kompetenzen in Grundschulen gestärkt, Grund- und Sekundarschulen zertifiziert sowie die Unterrichtsorganisation und individuelle Förderung an Gymnasien fortentwickelt. Basisförderschulen bekämen als regionale Beratungs- und Unterstützungssysteme höhere Stundenzuweisungen, zudem werde die Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte ausgebaut, zählt Hanusch auf.
An der Siedlungsgrundschule in Bad Dürrenberg hat das Kollegium dazu allerdings eine eigene Meinung: „Die Fortbildungen gehen von ganz anderen Bedingungen aus“, kritisiert Lehrerin Schmidt. „Die helfen mir nichts. Was ich heute weiß, habe ich mir selbst erarbeitet.“ „Und“, fügt sie hinzu, „die Ideen sind zwar super. Aber unter den heutigen Arbeitsbedingungen können wir nicht das leisten, was möglich und nötig wäre.“