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Kurze Vollzeit für alle

Die Frauen in der GEW fordern ein Umdenken in der Zeitpolitik: kurze Vollzeit für alle. "30 bis 32 Stunden pro Woche sollten ausreichen, um den Lebensunterhalt zu sichern", sagt GEW-Vorstandsmitglied Frauke Gützkow.

Was macht ein erfülltes Leben aus? Sinnvolle Arbeit, klar. Da sind in der Bildung Arbeitende zweifellos gut dran. Was ist befriedigender als Menschen - ob klein, ob groß - bei ihrer Entwicklung zu begleiten. Familie und Freundschaften gehören ebenfalls zu einem guten Leben. Doch noch immer ist die Balance zwischen Erwerbsarbeit und Familie mit Konflikten und Überforderungen behaftet. Und obwohl dies längst als gesellschaftliches Problem erkannt ist: Noch immer tragen überwiegend Frauen die Lasten und Kosten - Kosten in (mangelnder) Zeit, in (niedrigem) Einkommen, in (ungenügender) Alterssicherung.

Sie erfahren die Vereinbarkeit von Beruf und Familie überwiegend als Be- und nicht als Entlastung. Schuld daran sind die von Arbeitgeberinteressen dominierte Gestaltung der Erwerbsarbeitszeit sowie die Verdichtung der Arbeit. Daran zeigt sich, wie zäh der Abschied vom Modell des männlichen Familienernährers und der weiblichen Zuverdienerin verläuft. Das liegt auch daran, dass zwei wichtige Bereiche, die zu einem erfüllten Leben gehören, dem individuellen Organisationsgeschick überlassen bleiben: gesellschaftliches Engagement und kulturelle Teilhabe sowie Selbstsorge und Muße.

Im Bildungsbereich zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen Erwerbsarbeitszeit, Verantwortung für Familienaufgaben und Bezahlung in dem ungeschriebenen Gesetz "Große Kinder großes Geld, kleine Kinder kleines Geld" sowie in unbezahlter Arbeit - von Lehrerinnen in Teilzeit, deren übermäßige Beanspruchung durch unteilbare Aufgaben nicht kompensiert wird, von weiblichen Honorarkräften in der Weiterbildung, die nur den Unterricht, nicht aber Vor- und Nachbereitung bezahlt bekommen, von Erzieherinnen, die Gruppenaktivitäten nach der Arbeit zu Hause vorbereiten. Auch deshalb verharrt der "Gender Pay Gap" - die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern - in Deutschland seit Jahren bei 21 Prozent.

"Die Arbeitszeitkultur in den Betrieben muss sich ändern"

 

Wir Frauen in der GEW fordern ein Umdenken in der Zeitpolitik: kurze Vollzeit für alle! 30 bis 32 Stunden pro Woche sollten ausreichen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Auf dieser Basis können Arbeitszeiten je nach Lebenslage und persönlichen Bedürfnissen phasenweise kürzer oder länger ausfallen. Wir fordern eine Zeitpolitik, die sich am Lebensverlauf orientiert und die Zeitsouveränität der Beschäftigten ins Zentrum rückt. Die Arbeitszeitkultur in den Betrieben muss sich ändern und kollektivrechtlich abgesichert werden. Individuelle Gestaltungsrechte der Beschäftigten müssen ausgebaut werden. Das Recht auf befristete Teilzeit mit der Option, die Arbeitszeit wieder aufzustocken, und das geplante Gesetz für eine Familienarbeitszeit sind wichtige erste Schritte.

Doch es geht um mehr als tarifvertragliche, betriebliche und gesetzliche Arbeitszeitpolitik. Eine demokratische Gesellschaft braucht Menschen, die sich einmischen. Dieses Engagement darf nicht allein individuellem Zeitmanagement überlassen bleiben. Politik und Wirtschaft müssen dafür Zeit bereit stellen. Gleiches gilt für kulturelle Aktivitäten. Und schließlich brauchen Menschen Zeit für Selbstsorge und Muße: sich regenerieren, soziale Beziehungen pflegen, Energie und Kreativität schöpfen.

Nicht nur gute und bezahlte Erwerbsarbeit macht eine Gesellschaft zukunftsfähig. Sie wird auch von Menschen getragen, die Sorgearbeit leisten, die sich für ihre Umwelt verantwortlich fühlen. Deswegen muss Schluss sein mit Über- und Unterordnungen einzelner Lebensbereiche, von Produktion und Reproduktion: Zeit für den Beruf, für die Familie und für Freundschaften, für Engagement - und für sich selbst - eine moderne, geschlechtergerechte gewerkschaftliche Zeitpolitik sieht diese Bereiche als gleichwertig an. Sie gehören alle zu einem erfüllten Leben.

 

Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied für Frauenpolitik