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Kritik am Inklusionsbeschluss

Der Landesverband Baden-Württemberg kritisiert den Beschluss des Gewerkschaftstags zur Inklusion. Lehrkräfte an Förderschulen beklagten unter anderem eine mangelnde Wertschätzung ihrer pädagogischen Arbeit.

„Es gibt keine Alternative zur Inklusion“ lautet die Überschrift des von einer großen Mehrheit der Delegierten verabschiedeten Beschlusses auf dem Gewerkschaftstag der GEW Anfang Mai in Freiburg. Der Beschluss beschreibt, welche personellen und materiellen Voraussetzungen und welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit Inklusion gelingen kann*. Nach der Gewerkschaftstagsberichterstattung im Juni-Heft der „E&W“ gab es nicht nur eine lebhafte Leserdebatte, auch in manch einem Landesverband rumorte es. Besonders heftige Reaktionen gab es in Baden-Württemberg. Ein Gespräch mit Michael Hirn, Rektor eines Sonderpädagogischen Beratungszentrums (SBBZ) und Geschäftsführender Schulleiter der 19 SBBZ in Stuttgart.

E&W: Warum haben Mitglieder in deinem Landesverband so empört auf den Freiburger Inklusionsbeschluss reagiert?

Michael Hirn: Zum einen: Etliche Kolleginnen und Kollegen haben den Beschluss so verstanden, insbesondere vermittelte dies die Überschrift, als ob inklusive Beschulung die einzige Form sei, die Kindern mit Förderbedarf gerecht werden kann – „alternativlos“ eben. Menschen, die an Förderschulen arbeiten, empfinden das als mangelnde Wertschätzung ihrer pädagogischen Arbeit. Als ob das, wie sie bisher unterrichtet, was sie bisher geleistet haben, nicht gut genug wäre – und die GEW von jetzt an nur noch das Ziel Inklusion ansteuerte.

E&W: Und zum anderen?

Hirn: Die Forderung, schrittweise das Parallelsystem der Förderschulen aufzuheben, kommt für viele Sonderpädagoginnen und -pädagogen zu einem falschen Zeitpunkt.

E&W: Warum?

Hirn: Weil die Inklusion in BaWü nicht rund läuft. Viele Mitglieder sehen in der inklusiven Schule deshalb noch keinen angemessenen Ersatz für Sonderschulen. Sie befürchten, dass man nicht allen Kindern mit Förderbedarf in der Inklusion gerecht werden könne. Viele Kolleginnen und Kollegen haben den Freiburger Beschluss und die E&W-Berichterstattung über die Entscheidung offensichtlich so interpretiert, als seien die Förderschulen bereits bis zum nächsten Gewerkschaftstag abzuschaffen. Lehrkräfte, die an den SBBZ unterrichten, haben das als Affront begriffen.

E&W: Ein Missverständnis. Im Gewerkschaftstagbeschluss heißt es, das Parallelsystem Förderschule sei „schrittweise aufzuheben“ mit dem Ziel, „diskriminierungsfreie Teilhabe aller Menschen“ in der Bildung zu ermöglichen.

Hirn: Man muss doch unterscheiden: Da gibt es differenzierte und kontroverse Diskussionen, wie sie Funktionärskreise führen und wie sie teilweise auch in Freiburg zu erleben waren. Die meisten Mitglieder bleiben aber davon weitgehend unberührt. Sie lesen über Erfahrungen mit Inklusion in den Medien, die nicht ihrem eigenen Erleben entsprechen. Offensichtlich ist es uns nicht gelungen, der Basis die differenzierte Debatte auf dem Gewerkschaftstag zu vermitteln.

E&W: Heißt das, die Diskussionsebene zwischen Funktionären und Mitgliedern klafft auseinander?

Hirn: Nicht nur. Viele Lehrkräfte, nicht nur im sonderpädagogischen Bereich, sehen es momentan als schwierig an, inklusiv zu arbeiten.

E&W: Aber die „Eine Schule für alle“ ist doch Konsens in der GEW!

Hirn: Sicher, sie bleibt das langfristige wichtige Ziel. Aber kurzfristig geht es für etliche Kolleginnen und Kollegen erst einmal darum, die Rahmenbedingungen in den Schulen zu verbessern, bevor sie bereit sind, über strukturelle Veränderungen – etwa die Auflösung der Förderschulen – nachzudenken. Doch man muss auch zur Kenntnis nehmen: Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die die Förderschule nicht aufgeben wollen. Sie sind überzeugt davon, dass gemeinsames Lernen nicht allen Kinder gut tut.

E&W: Erklärt das den Frust und die Unzufriedenheit unter den Mitgliedern?

Hirn: Fakt ist: In unserem Bundesland hat die Politik über Jahrzehnte keine Anstalten gemacht, Integration behinderter Kinder in den Regelklassen zuzulassen. Ein Grund, weswegen sich viele Lehrkräfte nicht konkret mit inklusiver Beschulung auseinandersetzen konnten. Nachdem die UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland in Kraft trat, hat die Entwicklung an Dynamik zugenommen. Es gab 2015 ein neues Schulgesetz, das Inklusion ermöglichte. Seitdem haben viele Sonderpädagoginnen und -pädagogen den Eindruck gewonnen, dass sich dadurch ihre Bedingungen an den SBBZ sowie im inklusiven Unterricht verschlechtern – auch, weil die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot, wie es im Ländle heißt, massiv zugenommen hat** – ohne dass dafür genug neue Lehrerinnen und Lehrer eingestellt wurden. Kurz: Viele Mitglieder erleben Inklusion deshalb derzeit als sehr problematisches Arbeitsfeld.

E&W: Länder wie Bremen oder Schleswig-Holstein setzen schon sehr lange gemeinsames Lernen um, auch mit positiven Erfahrungen.

Hirn: In Baden-Württemberg gibt es ebenfalls erfolgreiche inklusive Angebote, keine Frage. Fest steht: Inklusion kann und soll gelingen. Aber sie hängt aus meiner Sicht von mehreren Faktoren ab: angemessene Ausstattung mit personellen (sonderpädagogischen) und materiellen Ressourcen, ausreichende Stunden für Doppelbesetzungen, kleinere Klassen.

E&W: Genau diese Forderungen stehen im Beschluss des Gewerkschaftstages ...

Hirn: … die Kolleginnen und Kollegen haben jetzt die Probleme in ihrem inklusiven Arbeitsalltag, daher nützt ihnen eine Zielperspektive mit Forderungskatalog wenig.

E&W: Was wären erste Schritte hin zu einer inklusiven Schule? Womit beginnt man?

Hirn: Damit, dass man Lehrkräfte auf neue Arbeitsformen vorbereitet, dass Schulleitungen und Kollegien sich klarmachen, wenn wir Inklusion einführen, kommen Mädchen und Jungen zu uns, die individuelle, auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Unterrichtsformen brauchen. Am allerbesten lässt sich das alles im Team erarbeiten. Für Unterrichts- und Teamentwicklung, auch für Fortbildung muss die Politik allerdings Zeit bereitstellen.

E&W: Was kann der Landesverband vor Ort konkret in Sachen Inklusion anschieben?

Hirn: Er kann sich für bessere Arbeitsbedingungen stark machen und die Politik unter Handlungsdruck setzen.

E&W: Was treibt insbesondere Sonderpädagoginnen und -pädagogen um: Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, die Sorge, zum „Wanderarbeiter“ zu werden?

Hirn: Etwas von allem, vermutlich. Veränderungsprozesse lösen oft Widerstände aus. Aber manch eine Kollegin, manch ein Kollege erlebt den Arbeitseinsatz in Inklusionsklassen an mehreren Standorten als sehr belastend und unbefriedigend. Auch im Regelschulsystem haben Lehrkräfte mit zusätzlichen Belastungen zu kämpfen.

E&W: Welchen?

Hirn: Nehmen wir das Beispiel einer Grundschullehrerin, die in einer Klasse mit 28 Schülerinnen und Schülern, darunter eine Gruppe von vier bis fünf Kindern mit speziellem Förderbedarf, unterrichtet. Wenn diese Kollegin lediglich eine sonderpädagogische Unterstützung von acht Wochenstunden erhält, bestreitet sie den Unterricht die meiste Zeit alleine – und zwar mit der ganzen Klasse. Eine starke Belastung.

E&W: Müsste der Landesverband versuchen, die Mitglieder mehr zu motivieren, zu ermutigen?

Hirn: Das Problem ist, dass unsere Kolleginnen und Kollegen an allen Ecken und Enden merken: Die Ressourcen reichen nicht aus! Deshalb wollen sie von ihrer Gewerkschaft nicht nur hören: „Arbeitet an eurer professionellen Haltung, dann wird es schon klappen!“

E&W: Heißt das, ohne adäquate personelle wie räumliche Ausstattung geht es mit Inklusion nicht voran?

Hirn: Es muss ja weitergehen. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die hochengagiert inklusiv arbeiten. Aber selbst diese sagen, wenn sich nicht bald etwas an unseren Arbeitsbedingungen verändert, macht uns das krank. Von der GEW erwarten sie, dass sie die Mitglieder darin unterstützt, deren akute Probleme zu lösen. Ein bildungspolitisches Fernziel, bei dem sie sich noch mehr unter Druck gesetzt fühlen, lehnen sie ab. Fakt ist: In Baden-Württemberg ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf innerhalb von zwei Jahren um insgesamt neun Prozent gestiegen.

E&W: Warum hat sich die Schülerzahl innerhalb kurzer Zeit so stark erhöht?

Hirn: Weil Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die allgemeine Schulen besuchten, dort vor 2015 keine sonderpädagogische Unterstützung erhalten haben. Diesen Kindern kann man jetzt im Rahmen der Inklusion ein Angebot machen.

E&W: Wie wirkt sich diese Veränderung für Lehrerinnen und Lehrer aus?

Hirn: Sie führt – ganz klar – zu einer Mehrbelastung in den Kollegien. Die Zahl der sonderpädagogischen Lehrkräfte hat sich lediglich um 1,2 Prozent erhöht. Manche Mitglieder glauben, daran sei die Umsetzung der Inklusion schuld. Das trifft natürlich so nicht zu. Aber die Kolleginnen und Kollegen möchten, dass die GEW die Politik unter Druck setzt, mehr Lehrkräfte einzustellen, und nicht, dass sie vorrangig den inklusiven Schulausbau vorantreibt.