Zum Inhalt springen

Musisch-kreative Bildung

Kreativität braucht Freiraum

Kreatives Schreiben ist mehr als Haiku und Elfchen, das auch „Deutschlehrers Liebling“ genannt wird. Anders als bei einer Schreibwerkstatt geht es um den Prozess, nicht das Ergebnis.

Am Anfang ist … nein, nicht das Wort, sondern das leere Blatt Papier – oder die unbeschriebene Word-Datei. (Foto: IMAGO/imagebroker)

Ich gebe einen Impuls – und wir legen los. Wie: einfach so? Nein. So einfach funktioniert das nicht. Zunächst muss die Gruppe auf das Thema eingestimmt werden, clusternd über Aspekte nachdenken, einen Begriff in einem Anagramm auseinandernehmen. Wer kreativ schreibt, konzentriert sich auf seine Sinne; Techniken 
wie das freie oder assoziative Schreiben unterstützen dabei. Schreiben auf Befehl funktioniert nur, wenn man dazu bereit ist.

Seit 2011 unterrichte ich kreatives Schreiben, inzwischen arbeite ich ausschließlich mit Erwachsenen. Das hat (auch) mit Erfahrungen zu tun, die ich bei Projekttagen an Schulen gemacht habe. Kreativität braucht Freiraum. Das scheint einigen Lehrkräften schwerzufallen. „Alles ist freiwillig. Es gibt kein ‚Richtig‘ und kein ‚Falsch‘“, erklärte ich den Kindern meiner Gruppe. – „Aber Zensuren gibt es schon“, ergänzte die Lehrerin.

Ein wichtiger Bestandteil der Workshops ist der Austausch über Handwerkliches. Schreiben ist ein komplexer Prozess mit vielen Schleifen und Knotenpunkten, an denen ein Scheitern droht, wenn man zu viel will – oder die Leine zu locker lässt. Ein gelungener Schreibprozess zeigt sich als ausgewogenes Miteinander von Kontrolle und Kontrollverlust, von Disziplin und Schlendrian. Rotkäppchen und der Wolf – und zwar, ohne dass der Jäger im Hinterhalt seine Flinte lädt. Der Dialog mit Gleichgesinnten entlastet und stärkt – auch gegen den inneren Kritiker, der einen zur Ordnung rufen will, und gegen den Perfektionisten, der einem ständig einflüstert, dass das alles noch nicht gut genug sei.

Kreativität ist eine Haltung

Nicht immer gelingt es, diese innere Stimme zum Schweigen zu bringen. Vor Jahren habe ich einmal für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer großen Behörde im Rahmen eines Kreativtages kreatives Schreiben angeboten. Eine sehr besondere Erfahrung, für beide Seiten. Den Teilnehmenden fiel es auffallend schwer, sich auf Unstrukturiert-Irrationales einzulassen. Als stünde eine innere Barriere im Weg, ein blinder Fleck. Immer wieder forderten sie eine Begründung und verzweifelten an den „einfachsten“ Aufgaben und Spielen. Vielleicht, weil einfach nicht immer einfach ist?

Kreativität ist keine Technik, die erlernbar ist, keine Begabung, mit der ein Mensch zur Welt kommt. Kreativität ist eine Haltung, eine innere Einstellung, die geprägt ist von Neugier und Offenheit. Sie erfordert viel Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, sich auf einen Prozess mit unsicherem Ausgang einzulassen: Ah, da ist ein Impuls. Wohin trägt er mich? Diese Haltung lässt sich stärken und trainieren, und damit sollte man so früh wie möglich beginnen. Kreativitäts-„Techniken“ unterstützen den Prozess, aber sie können ihn nicht auslösen. Den Schalter im Kopf muss jeder und jede selbst umlegen. Und wenn der Alltag von Struktur und Effizienz geprägt ist, rostet der Hebel ein und klemmt.

Kreativität soll Spaß machen.

Vor allem in Schreibwerkstätten, bei denen die Auseinandersetzung mit fertigen Texten im Vordergrund steht, scheint unbedachte Kritik häufig vorzukommen; das jedenfalls höre ich oft von Menschen, die an solchen Kursen teilgenommen haben. Und dass sie nach solchen Abwertungen eine lang andauernde Schreibblockade entwickelt haben.

Kreativität soll Spaß machen. Lachen befreit. Das kann mit Spielen unterstützt werden, die die Schreibübungen flankieren. Beim Spielen lösen sich Verknotungen aus dem Alltag. Spiele verschaffen einfache Erfolgserlebnisse. Menschen melden sich zu Wort, die sich bisher im Schatten gehalten haben. Sie zeigen stolz Fähigkeiten, zum Beispiel bei thematischen Varianten von „Stadt-Land-Fluss“.

Das macht Spaß, schon in der Vorbereitung. Alle sind willkommen, die sich darauf einlassen wollen. Niemand muss ein großer Dichter oder Schriftsteller sein. Diese Stunden mit Gleichgesinnten, das grenzenlose Ausfabulieren, den genauen Blick, genießen viele als Oasen in einer durchgetakteten Gegenwart. Die Zeit bleibt stehen. Man schärft seine Aufmerksamkeit. Begreift die Welt in vielen Details und Facetten – ohne zu bewerten. Und geht mit einem Lächeln und ein bisschen stolz nach Hause. 

Kreativität kann sich am besten in einem schützenden Rahmen entfalten.

Wer schreibt, taucht in einen Strom ein, lässt allen Halt los und gibt sich dem Fluss hin. Man nennt das „Flow“: Selbstversunken im Text, im Augenblick aufgehen, alles um sich herum vergessen, Zeit und Geräusche, die anderen und das irritierende Jucken im Ohr; und der innere Kritiker schnarcht leise wie die Katze, wenn sie auf der Heizung liegt.

Wer schreibt, verirrt sich im Wald, verlässt die Sicherheit bekannter Wege und denkt nicht über die Ankunft oder den Rückweg nach. Zum kreativen und literarischen Schreiben gehört diese kurze Irritation, das plötzliche Aufwachen und Erschrecken, der Einbruch der Realität. Wo bin ich hier? Und wie komme ich an ein Ziel – oder zurück auf vertraute Wege? Aus diesem winzigen Moment der Angst heraus mobilisiere ich alle Kräfte. Und wenn ich am Ziel bin, kann ich stolz zurückblicken. Ich habe etwas gewagt. Diese Erfahrung macht mich stärker. Und ich bringe etwas mit: ein Werk, eine Schöpfung.

Sich darauf einzulassen und sich völlig ungeschützt mit dem Entstandenen zu zeigen, erfordert Mut. Und Mut braucht Wertschätzung und Ermunterung. Kreativität kann sich am besten in einem schützenden Rahmen entfalten. Alle wissen: Wir gehen respektvoll miteinander um und loben das Geschaffene. Sie können sich erlauben, Kategorien wie „Richtig“ oder „Falsch“ aufzuheben. Textkritik soll von der eigenen Wahrnehmung ausgehen: Was hat mich an deinem Text begeistert? Was hat mich überrascht? Was habe ich nicht verstanden? Auch Pauschalisierungen wie „du bist noch so jung und schreibst schon sooo schön …“ können kränken und sind deshalb tabu.

Unter „kreativem Schreiben“ versteht man Ansätze, die davon ausgehen, dass Schreiben ein kreativ-sprachlicher Prozess ist, zu dem alle Menschen methodisch angeleitet werden können. Kreatives Schreiben geht damit über klassischen Schreibunterricht hinaus, indem der Schwerpunkt auf den Prozess des Schreibens selbst gelegt und durch assoziative, gestaltende und überarbeitende Methoden trainiert wird.