Kulturelle Bildung
„Kraftfutter für Kinderhirne“
Rund elf Millionen Euro lässt sich Nordrhein-Westfalen das Programm „JeKits – Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“ jährlich kosten. Eine sinnvolle Investition? Oder profitieren am Ende doch nur Kinder aus bildungsbürgerlichen Familien?
Mittwochmorgen in Köln-Mülheim. In der Katholischen Grundschule (KGS) Horststraße wird es lebendig. 25 Zweitklässlerinnen und -klässler stürmen in den Musikraum im Kellergeschoss. Gut gelaunt werden sie von Ralph Beerkircher erwartet. Gemeinsam mit Klassenlehrerin Janine Winne führt der Mitarbeiter der Offenen Jazz Haus Schule die Kinder 45 Minuten lang in die Welt der Noten und Instrumente, des Singens und Musizierens ein. Ein Schuljahr lang steht für sie jeden Mittwoch JeKits 1 auf dem Stundenplan.
Seit die Landesregierung das Programm 2015 startete, ist die Schule, die in einem Stadtteil liegt, der gerne als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird, mit von der Partie. So wie inzwischen landesweit mehr als 1.000 Schulen. JeKits ist das größte Programm für kulturelle Bildung in NRW. Schulen, die sich bewerben wollen, suchen sich einen Partner aus der Musikszene. Der stellt – vorausgesetzt, die Schule erhält den Zuschlag – nicht nur das Fachpersonal, das wöchentlich in der Schule mit den Kindern singt, musiziert oder tanzt, sondern auch die Instrumente. Die dürfen die Grundschülerinnen und -schüler auch zu Hause nutzen.
Die Teilnahme an JeKits 1 ist an den ausgewählten Schulen für den Klassenverband verbindlich. Und kostenlos. Wer bei JeKits 2 ein Schuljahr später erneut dabei sein will, muss im Schwerpunkt Instrumente 23 Euro, im Schwerpunkt Tanzen 17 und im Schwerpunkt Singen zwölf Euro monatlich bezahlen. Es sei denn, soziale Gründe sprechen dagegen. Kinder, deren Eltern Sozialleistungen beziehen, sind kostenfrei dabei. Während JeKits 1 eine musikalische oder tänzerische Grundbildung bietet, dient das zweite Jahr der Vertiefung in den Schwerpunkten Instrumente („JeKits-Orchester“), Tanzen („JeKits-Tanzensemble“) oder Singen („JeKits-Chor“).
„Viele Kinder kommen in Kontakt mit Musik, denen es sonst nie und in dieser intensiven Form möglich gewesen wäre. Sie können kreativ sein, andere Stärken zeigen und vor allem ohne Notendruck agieren.“ (Frank Großmann)
Frank Großmann koordiniert das Programm an der KGS Horststraße. Er ist überzeugt: „Viele Kinder kommen in Kontakt mit Musik, denen es sonst nie und in dieser intensiven Form möglich gewesen wäre. Sie können kreativ sein, andere Stärken zeigen und vor allem ohne Notendruck agieren.“ Beerkircher will es präzise wissen: „Wer von euch spielt zu Hause ein Instrument und bekommt Unterricht?“, fragt er die Zweitklässler an diesem Morgen. Das Ergebnis: Gerade einmal zwei Hände gehen in die Höhe.
Die enorme Bedeutung von Musik und Bewegung für die Entwicklung von Kindern ist wissenschaftlich erwiesen. „Kraftfutter für Kinderhirne“ nennt es der Neurobiologe Professor Gerald Hüther. Kinder, die regelmäßig singen, tun sich bei der Einschulung nachweislich leichter, zeigte eine Studie der Universität Bielefeld schon vor Jahren. Singen fördert den Spracherwerb und die Entwicklung des logisch-mathematischen Verständnisses, macht glücklich und hilft, Aggressionen abzubauen.
Die JeKits-Stunde von Beerkircher belegt die Thesen in der Praxis. Die Kinder sind begeistert. Sie hängen ihrem „Lehrer“ und ihrer Klassenlehrerin, die sich vorab über die Stunde verständigen, an den Lippen. Erstaunlich schnell entwickeln sie ein Gefühl für Rhythmus, hohe und tiefe Töne. Zuerst hören sie zu, dann entwickeln sie in Tandems gemeinsame Klatschrhythmen. Viel zu schnell sind die 45 Minuten verflogen. Die Frage, ob es ihnen gefallen habe, beantworten die Kinder im Chor: „Ja!“ Und warum? Der achtjährige Atilla bringt es auf den Punkt: „Weil es cool ist, ein eigenes Instrument und ein Hobby zu haben.“
„Sowohl bei den Mädchen als auch den Jungen finden sich immer wieder echte Supertalente. Viele von ihnen wären ohne JeKits wahrscheinlich nie entdeckt worden.“ (Georg Wissel)
Die Vorfreude steht den Kindern ins Gesicht geschrieben. Denn der Traum, ein Instrument – wenn auch nur vorübergehend – geliehen zu bekommen, ist geradezu greifbar nahe. Nicht zeitlich, der „Grundkurs“ ist schließlich gerade ein paar Wochen alt, aber im ganz wörtlichen Sinn. Im Musikraum sind sie aufgereiht: die Gitarren, Saxophone und Posaunen. Rund zwei Drittel der Grundschülerinnen und -schüler und ihrer Eltern an dieser Schule entscheiden sich dafür, auch bei JeKits 2 dabei zu sein. Landesweit liegt die Quote bei etwa einem Drittel. Rund die Hälfte von ihnen kann dies tun, ohne einen Euro zu bezahlen. Der soziale Aspekt greift.
Er beschert einen wertvollen und gewollten Nebeneffekt. Manch ein Talent werde entdeckt, berichtet Georg Wissel. Er gehört ebenfalls der Offenen Jazz Haus Schule an. „Sowohl bei den Mädchen als auch den Jungen finden sich immer wieder echte Supertalente“, weiß Wissel aus Erfahrung und fügt hinzu: „Viele von ihnen wären ohne JeKits wahrscheinlich nie entdeckt worden.“ Im Gespräch mit den Eltern leisten er, seine Kolleginnen und Kollegen sowie die Lehrkräfte oft genug Überzeugungsarbeit, damit das Kind sein Potenzial auch nach Abschluss von JeKits entfalten kann. Wissel: „Nicht immer gelingt das, aber wir tun unser Bestes.“ Allerdings weiß er auch, dass es von den Möglichkeiten und Angeboten der weiterführenden Schule abhängt, ob die erkannte Begabung weiter gefördert werden kann.
In diesen Einrichtungen wird das Programm, das von der in Bochum ansässigen JeKits-Stiftung getragen wird, nicht angeboten. Es richtet sich ausschließlich an Grund- und Förderschulen. Erreicht werden rund zwei Drittel aller Grundschülerinnen und -schüler in 177 Kommunen des Landes. Auf das größte Interesse stößt der Schwerpunkt Instrumente, gefolgt von Singen und Tanzen. Tanja Senicer, Sprecherin der Stiftung, hebt einen weiteren wichtigen Aspekt von JeKits hervor: „Die Musikschulen und Tanzinstitutionen öffnen sich noch stärker nach außen und gehen in die Lern- und Lebenswelt der Kinder. Das gibt einen wichtigen Impuls für die kommunale Bildungslandschaft.“
Aktuell sind so 139 Musikschulen oder Tanzinstitutionen an über 1.000 beteiligten Schulen eingebunden. Tandem-Arbeit auf Augenhöhe wird erlebt und gelernt, Fortbildungen bereichern das Repertoire der Lehrkräfte, Arbeit mit größeren Gruppen jenes der externen „Lehrer“. Senicer: „Eine Win-Win-Situation für alle. Vor allem aber eben für die, um die es uns geht: die Kinder.“