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Bob Blume im Interview

„Kommata kann man nachholen“

In seinem Buch „10 Dinge, die ich an der Schule hasse“ kritisiert Bob Blume erstarrten Unterricht und eine Bürokratie, die Entwicklungen im Weg stehe. E&W sprach mit dem Lehrer und Blogger, der an einem Gymnasium bei Baden-Baden unterrichtet.

Der Lehrer und Blogger Bob Blume lehnt das Notensystem ab und plädiert stattdessen für konkrete Rückmeldungenan Schülerinnen und Schüler. (Foto: Maria Panzer)
  • E&W: Sie plädieren schon im Vorwort dafür, stärker mit allen am Bildungsleben Beteiligten zu sprechen, wie gute Schule aussehen könne. Wer muss stärker gehört werden?

Bob Blume: Gerade in der Corona-Zeit hat die Praxiserfahrung der Kolleginnen und Kollegen, die bereits jahrelang digital arbeiten, wenig Eingang in die schulische Bürokratie gefunden. Das hat dazu geführt, dass Leitgedanken zu digitalem Fernunterricht erst sehr spät aufgeschlagen sind – als sie schon gar nicht mehr benötigt wurden. Das ist grundsätzlich das Problem in einer Zeit, die sich so schnell wandelt: Lange Prozesse wie im System Schule können dazu führen, dass man stark abgekoppelt ist von der sich verändernden Praxis.

  • E&W: In Ihrer „Hass“-Liste nennen Sie als erstes eine Fixiertheit auf den Unterrichtsstoff: Ist das Ihr Hauptkritikpunkt?

Blume: Im Grunde ja. Unabhängig davon, dass die Rahmenbedingungen in der Corona-Zeit unterschiedlich waren, etwa mit Blick auf das Digitale, hatte man das Gefühl: Mensch, wir haben echt was gemacht. Die Schülerinnen und Schüler haben super mit verschiedenen Tools gearbeitet. Sie haben in einer Form kommuniziert, die vorher nicht möglich war. Und dann hört man: Ja, aber der Stoff … der Stoff, der Stoff, der Stoff. Wenn es hart auf hart kommt, geht es also doch wieder nur um das Schulbuchkapitel, nicht um Kompetenzen.

  • E&W: Sie lehnen das Notensystem ab und befürworten konkrete Rückmeldungen.

Blume: Das Problem ist schon die Ziffer selbst. Und dass wir Lehrkräfte so tun, als würden wir verstehen, was der Unterschied zwischen sieben und acht Punkten ist. Das ist doch eine artifizielle Entscheidung im Kleinstbereich, die keiner erklären kann. Deshalb ist mir konstruktives Feedback so wichtig: Schülerinnen und Schüler müssen verstehen, wieso unter ihrer Arbeit eine bestimmte Ziffer steht, und sie müssen wissen, wie sie diese verbessern können. Ich habe in meinem ersten Kursjahr 140 Seiten Feedback geschrieben, mittlerweile mache ich auch Audiobesprechungen. Und das zahlt sich aus, meine Schülerinnen und Schüler werden besser. Mein Vorschlag ist: Im Zeugnis könnte für einzelne Fächer stehen: bestanden, nicht bestanden oder mit Auszeichnung bestanden. Zusätzlich könnte die Lehrkraft Eigenschaften wie Teamfähigkeit oder Ähnliches hervorheben – wie in einem Empfehlungsschreiben. Die Aussagekraft eines solchen Zertifikats wäre deutlich höher.

  1. Der Stoff steht über allem
  2.  Unterricht ist erstarrt
  3. Die Bürokratie verhindert eine Weiterentwicklung
  4. Noten als Pawlowsche Reflexe
  5. Prüfungen als Heiliger Gral
  6. Die Lehrerausbildung prüft das Falsche
  7. Schlechte Lehrer haben es zu leicht
  8. Die Digitalisierung wird nicht verstanden
  9. Eltern werden nicht eingebunden
  10. Die Boomer ignorieren die Generation Social Media
  • E&W: Noten abzuschaffen, wäre aber wohl schwierig durchzusetzen.

Blume: In der Schule ist nichts einfach zu verändern. Wir müssen aber viel mehr über Prioritätensetzung diskutieren. Sind die Zielvorgaben jedes Fachs unverrückbar? Muss ich in Deutsch zwei Werke à 300 Seiten vergleichen können? Es geht ja letztlich immer um Zeit und Ressourcen. Und beides haben wir nicht. Traurig ist, dass wir Lehrkräfte uns entscheiden müssen: Machen wir eine Theater-AG oder fördern wir die Kinder in Mathe. Wir müssen dann Mathe machen, weil sich irgendeiner irgendwann überlegt hat, das müsse man können, wenn man Abitur hat. Jemand, der mathematisch begabt ist, aber in der Schule nicht die e-Funktion kennengelernt hat, kann das im Studium mit einem Fingerschnipp nachholen. Ich war in der Schule in Grammatik und Rechtschreibung ein absoluter Depp, aber ich habe Germanistik studiert und das Studium ziemlich gut abgeschlossen. Denn ich habe aus der Schule die Lust und Leidenschaft für das Lernen mitgenommen. Kommata kann man nachholen.

  • E&W: Was könnte raus aus den Bildungsplänen – und was müsste dafür rein?

Blume: Für mich muss in jedes Fach in jeder Stunde das Metalernen, die Reflexion: Warum man tut, was man tut. Es gibt viel zu viele Schülerinnen und Schüler, die das nicht verstehen. Man muss mit ihnen immer wieder die Relevanz von Unterrichtsinhalten diskutieren. Damit sie am Ende wissen, dass eine Erörterung nicht nur ein Aufgabenformat ist, sondern das Erlernen einer gesellschaftlichen Teilhabe. Weil man Texte versteht, die schlaue Menschen geschrieben haben und die den Horizont erweitern, und anders diskutieren kann. Jedes Fach müsste entschlacken. Es müsste um eine Vertiefung des Wissens im Sinne einer kompetenzorientierten Bildung gehen. In Baden-Württemberg soll man in der 8. Klasse in Geschichte eine Doppelstunde Statistikanalyse machen. Das ist die Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse wie den Klimawandel oder Vermögensunterschiede zu verstehen, das ist fundamental. Das lernt man aber nicht in einer Doppelstunde. Wenn das ernst genommen würde, bräuchte man ein halbes Jahr.

  • E&W: Der Studie ICILS 2018 zufolge haben viele jungen Menschen auch keine tieferen IT-Kompetenzen – und teils schon Schwierigkeiten, eine E-Mail zu beantworten.

Blume: Ja, dazu gibt es aber auch eine andere Perspektive: Warum sollten sie das können? Wer sagt, dass wir in ein paar Jahren noch E-Mails schreiben? Wir machen oft den Fehler zu denken, Schülerinnen und Schüler müssten das beherrschen, was auf Grundlage unserer eigenen Sozialisation wichtig ist. Aber wenn ein Schüler, der gut coden kann, sehr kreativ ist und sich selbst die Technik des Filmschnitts beigebracht hat, in einem Unternehmen das Marketing auf TikTok übernimmt und in zwei Wochen einen Kanal mit 40.000 Followern aufbaut, dann interessiert dort keinen, ob er weiß, was ein Betreff ist. Es kommt immer darauf an, was wir überhaupt meinen, wenn wir von digitalen Kompetenzen sprechen.