Schulsozialarbeit
„Können wir kurz reden?“
Ob Zirkus oder Disko: An der Gemeinschaftsschule in Neunkirchen im Saarland sorgt die Schulsozialarbeit für kurze Auszeiten im langen Schulalltag – und hilft bei großen und kleinen Sorgen.
Kurz vor Beginn der großen Pause eilt Sozialarbeiter Lars Bieringer zur Disko. Unterwegs kickt der 24-Jährige einen Tischtennisball zur Seite, grüßt einen Schüler mit High Five. Im Flur spricht ihn ein Lehrer an: „Lars, hast du kurz Zeit?“ Als der Sozialarbeiter die Kellertreppe hinuntersteigt, drängeln sich schon viele Jugendliche vor der Metalltür. Drinnen sorgen bunte Glühbirnen für schummriges Licht, Mädchen und Jungen fläzen sich auf den Sofas. Drei Schüler in Trainingshose schließen ihr Handy an die Musikanlage an, aus den Boxen dröhnt lauter Hip-Hop. Mehrere Fünftklässler spielen Tischkicker im Nebenraum, einige Mädchen turnen auf dem Betonboden. Auf den ersten Blick würde niemand vermuten, dass sie sich in einer Schule befinden. „Das ist auch gut so“, findet Bieringer. „Die Schülerinnen und Schüler verbringen acht Stunden in der Schule. Da brauchen sie einen Rückzugsort.“
An der Ganztagsgemeinschaftsschule Neunkirchen ist die Schulsozialarbeit fest verankert, Träger ist die Arbeiterwohlfahrt (AWO). Ihr Grundsatz: „Wir sind für alle Schülerinnen und Schüler da“, betont Sozialpädagogin Andrea Ohl. Egal, ob Streit mit der besten Freundin, Zoff zu Hause, Ärger in der Schule, ein Todesfall in der Familie, Trennung der Eltern, Drogen, Gewalt oder Missbrauch: „Es gibt nichts, weshalb sie nicht kommen.“ Das Team will bewusst nicht nur Einzelfälle in den Blick nehmen. Viele Kinder trügen Probleme mit sich herum, ohne in der Schule auffällig zu sein, so die Pädagogin. Wichtig ist ihr, dass allen der Weg zur Schulsozialarbeit offensteht.
In deren Büro im Untergeschoss der Schule gehen Schülerinnen und Schüler ständig ein und aus. Während der dritten Stunde reißt ein Mädchen mit Zahnspange und Kapuzenpulli die Tür auf: „Lars, können wir kurz reden?“ – „Klar, lass uns nach nebenan gehen.“ Die Neuntklässlerin kommt regelmäßig vorbei. Diesmal hat sie sich über ihren Lehrer geärgert, fühlt sich ungerecht behandelt. Zehn Minuten später stapft die Schülerin zusammen mit dem Sozialarbeiter zum Klassenzimmer, ein Taschentuch in der Hand – gemeinsam sprechen sie kurz mit dem Lehrer. „Bevor der Streit eskaliert, kommt sie lieber runter“, erklärt Bieringer. „Sie macht echt tolle Fortschritte.“
„Bei Schulsozialarbeit geht es um den gesamten Blick auf junge Menschen, nicht nur bezogen auf Probleme.“ (Björn Köhler)
In der Frühstückspause belagern Jugendliche das Büro, einige Jungen üben sich im Armdrücken. Der Sozialarbeiter steht daneben, Hände in den Hosentaschen. „Der Sieger darf gegen mich antreten“, ruft der 24-Jährige. Ihm ist wichtig, klar zu machen: „Wir sind keine Lehrer!“ In dem Raum geht es lautstark zu. Das stört Bieringer nicht, im Gegenteil. „Leise sein müssen sie schon im Unterricht.“
Die Schülerinnen und Schüler bleiben bis 15.55 Uhr in der Schule. Das heißt: Sie verbringen einen Großteil ihrer Freizeit dort. Ein genereller Trend. Auch deshalb sei Schulsozialarbeit so wichtig, sagt GEW-Vorstandsmitglied Björn Köhler, verantwortlich für Jugendhilfe und Sozialarbeit. Früher seien Probleme häufig in der Freizeit oder Familie ausgetragen worden. Durch den Ganztag verlagerten sich viele Erfahrungen in die Schulen, vom Liebeskummer bis zum Drogenkonsum. Deshalb brauche es mehr als Unterricht. „Bei Schulsozialarbeit geht es um den gesamten Blick auf junge Menschen“, stellt Köhler klar, „nicht nur bezogen auf Probleme.“ Es gelte, die Kinder zur Gemeinschaftsfähigkeit zu führen. Schule nicht mehr nur als Lernort, sondern immer mehr auch als Lebensraum.
„Es gilt, erst einmal Vertrauen aufzubauen. Damit die Schülerinnen und Schüler später von alleine zu uns kommen.“ (Andrea Ohl)
„Die Schulsozialarbeit ist fester Bestandteil unserer Schule“, betont Schulleiter Clemens Wilhelm. Von Anfang an. Der frühere saarländische GEW-Vorsitzende Peter Balnis, inzwischen verstorben, hat das Angebot mit aufgebaut. Er war selbst Schulsozialarbeiter und legte großen Wert darauf, dass es eine eigenständige Einrichtung der Jugendhilfe in der Schule gibt. „Peter hat mir sehr deutlich erklärt, dass ich nicht der Chef der Schulsozialarbeit bin“, berichtet der Schulleiter. „Und er hat mir klar gemacht, wie enorm wichtig es für Schule ist, dass es noch eine andere Institution gibt, die einen ganz anderen Blick auf die Kinder hat – unabhängig von Noten.“
Das Team der Schulsozialarbeit bietet offene Freizeittreffs in den Pausen an, leitet wöchentliche AGs wie Zirkus, Klettern, Salsa und Schule gegen Rassismus – und arbeitet fest in den Klassen mit. Der Schwerpunkt liegt auf den 5. und 6. Jahrgangsstufen. „Es gilt, erst einmal Vertrauen aufzubauen“, erklärt Ohl. „Damit die Schülerinnen und Schüler später von alleine zu uns kommen.“ Die Schulsozialarbeit gestaltet in den 5. Klassen zwei Stunden pro Woche: Dienstags steht Klassenrat auf dem Stundenplan, donnerstags Methodentraining. Ziel dabei ist, die Klassengemeinschaft zu stärken.
Beim Klassenrat in der 5c besprechen die Schülerinnen und Schüler im Stuhlkreis, was ihnen auf dem Herzen liegt: Ein Mädchen schimpft, dass die Jungen immer Flaschendrehen spielen, „langsam nervt‘s“. Ein Schüler schlägt vor, dass die ganze Klasse an einem Tag im Fußballtrikot zur Schule kommt. Und ein Mitschüler regt an, für das Klassenmaskottchen – ein Weißkopfadler aus Plüsch – einen Freund anzuschaffen. Für jedes Thema gibt es sieben Minuten. Die Kinder diskutieren, überlegen Lösungen, stimmen ab. Ein paar Türen weiter übt Ohl beim Methodentraining „Ich-Botschaften“ mit der Klasse 5a. „So kann ich sagen, wenn mich etwas ärgert“, erklärt sie zu Beginn der Stunde, „ohne in Streit zu geraten oder mich sogar zu kloppen.“
Die Pädagogin verteilt Zettel mit Szenen, in Gruppen sollen sich die Kinder dazu Dialoge überlegen – und der Klasse vorspielen. Zwei Schüler stellen einem Jungen ein Bein, er lässt sich zu Boden stürzen, blickt auf seinen Zettel: „Ich bin genervt, dass ihr mir ein Bein stellt. Ich möchte, dass ihr Rücksicht nehmt.“ Nächste Szene: Zwei Mädchen werden angerempelt, sie entgegnen: „Wir möchten nicht, dass ihr uns schubst.“ Ohl fragt: „Was fehlt?“ Die Kinder gucken ratlos. „Euer Gefühl.“ Später meldet sich ein Junge zu Wort: „In der Pause machen wir das eh anders.“ Die Sozialpädagogin rät, beide Arten auszuprobieren – und zu schauen, was passiert.
„Die Schulsozialarbeit hilft enorm.“ (Dominik Berlitz)
Klassenlehrer Dominik Berlitz erklärt, viele Schülerinnen und Schüler hätten Probleme in „sozial-emotionaler Hinsicht“. Einigen falle es schwer, sich an Regeln zu halten oder stillzusitzen. „Die Schulsozialarbeit hilft enorm.“ Immer mal wieder fragt der Klassenlehrer in konkreten Situationen nach Rat. Häufig bitten ihn auch Schülerinnen und Schüler, ein Gespräch mit „der Andrea“ verabreden zu dürfen. In der Schulordnung ist festgelegt, dass sie während des Unterrichts die Schulsozialarbeit aufsuchen dürfen. In der Regel vereinbaren sie vorher einen Termin. „Mir sagen sie gar nicht, worum es geht“, berichtet der Klassenlehrer. Nur so viel: „Ist privat.“ Er sei sich bewusst, dass er nicht „beides“ leisten könne. „Ich muss meine Rolle als Lehrer wahrnehmen.“
Das gilt auch für die Sozialpädagogin. Deshalb ist ihr wichtig, dass der Klassenlehrer in den Stunden dabei ist. Sie will nicht schimpfen oder maßregeln. „Ich lege Wert darauf, meine Rolle zu behalten“, betont Ohl. Amal, 12 Jahre, freut sich jedes Mal auf die Stunden der Schulsozialarbeit. „Das ist besser als Unterricht.“ Kürzlich hätten sie „warme Dusche“ gespielt: Ein Kind sitzt in der Mitte, die anderen sagen, was sie an ihm mögen. „Saugut!“ Amal lächelt: „Viele haben gesagt, dass ich lustig bin.“ Sie sei schon oft bei der Sozialpädagogin zum Reden gewesen. „Andrea ist sehr lieb. Sie hilft uns immer.“
Als die Stunde vorbei ist, hastet Ohl runter zum Zirkusraum, mehrere Kinder strömen sofort hinein. Im Gegensatz zur Zirkus-AG mit fester Teilnehmerzahl können in der Pause alle mitmachen. Ein Junge spaziert in Winterjacke auf Stelzen umher, ruft „Hey, Alter“ und lacht, zwei Mädchen balancieren auf Bällen, andere Kinder sitzen auf dem Fensterbrett und gucken zu. Die Sozialarbeiterin gibt mal hier, mal dort Hilfestellung, ständig ruft jemand: „Andrea, guck mal!“
„Aufgabe der Schule ist es, den Kindern klare Strukturen und Halt zu geben.“ (Clemens Wilhelm)
Viele Schülerinnen und Schüler hätten es zu Hause nicht leicht, berichtet Ohl. Einige brauchten ihre ganze Schulzeit hindurch etwas Unterstützung – zum Beispiel, damit sie nicht immer wieder in Streit geraten. Neunkirchen ist eine Stadt mit viel Armut. Einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge lebt mehr als jedes dritte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt. Der Schulleiter sagt: „Aufgabe der Schule ist es, den Kindern klare Strukturen und Halt zu geben.“ Die Schulsozialarbeit habe in vielen Punkten Priorität vor dem Unterricht. Wenn ein Kind wegen Problemen gerade nicht lernen könne, sei es sinnvoll, den Fokus nicht aufs Lernen zu legen – sondern darauf, was das Kind gerade bewege. „Das macht auch Sinn für uns Lehrer“, meint Wilhelm.
Die Sozialarbeiter sind zudem Ansprechpartner für Eltern. Bei Bedarf vermitteln sie spezielle Hilfsangebote, stellen Kontakt zum Jugendamt her. Um den Übergang zu erleichtern, finden die ersten Gespräche oft in ihrem Büro in der Schule statt. Aktuell beschäftigt sich das Team mit einem Achtklässler, der seit zwei Monaten nicht zur Schule gekommen ist. Ohl stand selbst schon ab und zu morgens bei Familien auf der Matte, um ein Kind abzuholen. Doch die Regel ist das nicht. „Dafür haben wir gar keine Zeit.“ Ohl und ihre Kolleginnen und Kollegen versuchen jedoch immer, Brücken zu bauen – und bieten einem Schüler zum Beispiel an, dass er sich jederzeit im Büro zurückziehen kann, wenn ihm alles zu viel wird.
„Es gibt keine Regel. Schulsozialarbeit im Saarland ist ein großer Flickenteppich.“
Das Team der AWO verfügt an der Schule über zwei volle Stellen, verteilt auf mehrere Teilzeitkräfte. Hinzu kommt ein weiterer Schulsozialarbeiter, der direkt an der Schule angestellt ist. Gemeinsam sind sie für 1.000 Schülerinnen und Schüler zuständig. „Meine Vision wäre eine Stelle pro Jahrgang“, sagt Ohl. Also für fünf Klassen. Doch im Vergleich zu anderen Schulen seien sie gut aufgestellt. Nadine Berwanger-Alt, beim GEW-Landesverband zuständig für Jugendhilfe und Sozialarbeit, nennt die Gemeinschaftsschule in Neunkirchen ein Vorzeigemodell. An einigen Schulen böten Schoolworker, wie es im Saarland heißt, nur eine Sprechstunde pro Woche an.
Generell gilt: „Es gibt keine Regel. Schulsozialarbeit im Saarland ist ein großer Flickenteppich.“ Je nach Kreis und Schulform unterscheide sich Schulsozialarbeit sehr. Drei verschiedene Ministerien mischten mit, außerdem die Kommunen. Hinzu kommen verschiedene Träger. „Wir brauchen eine rechtliche Verankerung mit festem Personalschlüssel“, fordert die Gewerkschafterin.
Bislang stellte das Land jedes Jahr 1,9 Millionen Euro für „Schoolwork“ bereit. Im Vorjahr kündigte die Landesregierung an, zusätzlich 500.000 Euro für multiprofessionelle Teams zur Verfügung zu stellen – laut GEW reicht die Summe für circa zehn Stellen. 2020 soll es weitere zwei Millionen Euro geben. Außerdem will das Kultusministerium die Zuständigkeit bündeln und flächendeckende Standards einführen. „Langsam kommt etwas in Bewegung“, sagt Berwanger-Alt.
„Worauf es ankommt, ist, dass die Schulleitung den Wert von Schulsozialarbeit kennt und nutzt.“
Eine gute Personalausstattung sei das A und O, sagt Köhler vom GEW-Hauptvorstand. Außerdem gute Kommunikation. Es sei nicht immer einfach, wenn zwei völlig unterschiedliche Systeme wie Schule und Jugendhilfe aufeinanderträfen. „Worauf es ankommt, ist, dass die Schulleitung den Wert von Schulsozialarbeit kennt und nutzt.“ Die Gemeinschaftsschule in Neunkirchen zeige, wie eine gute Kooperation aussehe. Doch dafür brauche es Zeit. Daran hapere es an vielen Schulen.
In Neunkirchen setzen sich die Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter regelmäßig mit der Schulleitung zusammen, außerdem sind sie bei den wöchentlichen Teambesprechungen dabei, nehmen an Konferenzen und Ausflügen teil. Was fehlt, ist eine feste Stunde für engen Austausch mit der Klassenleitung. „Das wäre sinnvoll“, sagt Ohl. So erfährt sie manchmal erst spät, dass ein wichtiges Elterngespräch ansteht. Eine Zeitlang hätten sie es probiert, aber irgendetwas kam immer dazwischen, eine Vertretung oder ein Elterngespräch. „Doch es funktioniert auch so“, meint die Sozialpädagogin. „Irgendwo finden wir zwischen Tür und Angel immer ein paar Minuten.“ Sie fügt hinzu: „Hauptsache, wir haben genug Zeit für die Kinder.“