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Aufarbeitungsprojekt „Heimerziehung“

Kinderseelen gebrochen

Das baden-württembergische Landesarchiv hat in einem Projekt das Leid in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrien für die Jahre 1949 bis 1975 aufgearbeitet. Die Ergebnisse sind erschütternd.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren Behinderte in vielen Heimen Westdeutschlands Erniedrigungen und Übergriffen ausgesetzt. (Foto: IMAGO/mhphoto)

Nora Wohlfarth weiß aus der eigenen Familie, welcher pädagogische Geist noch in den 1970er-Jahren in vielen Einrichtungen der Kinder- und Jugendpflege herrschte. Damals fing ihre Mutter als idealistische 17-Jährige ihre Ausbildung in einem Kinderheim in der Nähe von Stuttgart an. Und traf dort auf eine Heimleiterin, die den Kindern mit Pflasterstreifen den Mund zuklebte, wenn sie den Geräuschpegel als zu hoch empfand.

Für Wohlfarth, die zusammen mit Corinna Keunecke in einem Projekt des baden-württembergischen Landesarchivs untersucht hat, wie es in der Nachkriegszeit in Heimen der Behindertenhilfe und Psychiatrien zuging, ist das Beispiel ihrer Mutter vielsagend. „Das war einige Jahre, nachdem ‚68‘ einen radikalen Paradigmenwechsel in der Pädagogik eingefordert hat.“ Doch bis der sich flächendeckend Bahn brechen konnte, gingen eben noch viele Jahre ins Land. Jahre, in denen Kinder mit Gewalt zum Schweigen gebracht wurden. Und in denen ihnen Dinge widerfuhren, die wohl den meisten Menschen anno 2022 einen Schauder über den Rücken jagen.

„Körperliche Züchtigung ist nur eine Ausprägung. Arreststrafen, Essensentzug, Kontaktsperre und Briefzensur waren weit verbreitet. Sehr häufig wird zudem von psychischer Gewalt, Demütigungen und sexualisierter Gewalt berichtet“, heißt es im Abschlussbericht des „Dokumentationsprojekts Zwangsunterbringung“, das von Wohlfarth und Keunecke recherchiert wurde.

Zeitzeugenberichte aus den Ländern ähnlich

In der Nachfolge des Aufarbeitungsprojekts „Heimerziehung“ (2012 bis 2018) untersuchten die beiden Historikerinnen, wie Menschen in ihrer Kindheit zwischen 1949 und 1975 (für Menschen aus der DDR bis Oktober 1990) in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien untergebracht waren. Die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“, die sich aus Landes- und Bundesmitteln sowie Zuwendungen der beiden großen christlichen Kirchen speist, ermöglichte Betroffenen der Zwangsunterbringung, einen Entschädigungsantrag in Höhe von bis zu 14.000 Euro zu stellen.

Dass sich die Situation in Baden-Württemberg signifikant anders als in den anderen zehn westdeutschen Ländern darstellte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Dazu ähneln sich die Zeitzeugenberichte aus allen Bundesländern zu sehr. Fachleute gehen davon aus, dass in Westdeutschland zwischen 1949 und 1975 bis zu 116.000 Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Einrichtungen oder Heimen für Menschen mit Behinderung lebten.

„Es gab auch Momente des Glücks: Freizeitaktivitäten brachten Freude, es wurden Spieleabende organisiert oder Spaziergänge und Ausflüge unternommen.“

Diese waren natürlich nicht per se und ausschließlich Orte des Leids. „Es gab auch Momente des Glücks: Freizeitaktivitäten brachten Freude, es wurden Spieleabende organisiert oder Spaziergänge und Ausflüge unternommen“, heißt es in der Dokumentation. Selbstverständlich gab es Tausende engagierte, liebevolle Pflegerinnen und Pädagogen, die alles in ihrer Macht Stehende taten, um den Kindern und Jugendlichen ein möglichst schönes Leben zu ermöglichen.

„Letztlich sind aber die Strukturen entscheidender“, sagt Wohlfarth. Strukturen, denen sich in den 1970ern auch ihre Mutter beugen musste. Und Strukturen, die beispielsweise für gehörlose Menschen Lebensumstände bedeuteten, die von Sadismus und Grausamkeit geprägt waren. „Ich bin davon überzeugt, dass man als Individuum positiv wie negativ durchaus einiges bewegen kann“, sagt Wohlfarth.

Gebärdensprache verboten

So war die Gebärdensprache, die von vielen Gehörlosen als ihre eigentliche „Muttersprache“ beschrieben wird, verpönt und in fast jeder Einrichtung verboten – nicht die einzige Gemeinsamkeit, die kirchliche, staatliche und sonstige Träger in dieser Zeit aufwiesen. Betroffene, die sich mit den Stuttgarter Historikerinnen in Verbindung gesetzt hatten, berichteten zum Beispiel unisono, dass sie sich in den Heimen auf die Hände setzen mussten, um nicht erst in Versuchung zu geraten, die Gebärdensprache zu benutzen.

Im Übrigen nicht die einzige Kontinuität zur NS-Zeit. Das „Gebärden“ wurde von 1933 bis 1945 als „Affensprache“ diffamiert. Stattdessen wurde mit gröbstem Zwang versucht, die Lautsprache zu lehren. Vorm Spiegel sollten die Hörgeschädigten einzelne Buchstaben oder Worte wie „Haus“ und „Sonne“ sprechen. Sie mussten Wasser trinken und gurgeln, das sollte helfen, das „r“ zu sprechen. Gelang das nicht, wurden sie geschüttelt oder gar geschlagen.

Kollektivstrafen an der Tagesordnung

Egal, ob in Einrichtungen der Jugendhilfe, der Psychiatrie oder solchen für behinderte Menschen: Kollektivstrafen waren überall an der Tagesordnung. Auch um zu verhindern, dass sich die Kinder miteinander solidarisierten. Zu den Maßnahmen in der Jugend- und der Behindertenhilfe gehörte vielerorts offenbar auch ein sehr laxer Umgang mit Psychopharmaka und anderen stark wirkenden Medikamenten.

Ein Opfer dieser „autoritären, rigiden Strukturen“, die Wohlfarth flächendeckend am Werk sieht, war auch die gehörlose Claudia Gerber (Name geändert), die Mitte der 1950er-Jahre in Südbaden geboren wurde. Ihre Eltern, die sich offenbar für die Beeinträchtigung ihrer Tochter schämten, brachten sie in einem Internat für gehörlose Kinder in Heidelberg unter. Dort, so berichtet Gerber, sei sie das Opfer sexueller Übergriffe durch einen Lehrer geworden.

„Eine Kindheit in der Nachkriegszeit, war für viele Menschen keine schöne Zeit. Nicht in den Einrichtungen. Und sicher auch nicht in jeder Familie.“  (Nora Wohlfarth)

Gerber schildert auch schier unglaubliche Bestrafungen, wenn Kinder nicht mit Freude ihr Essen aßen. „Manchmal haben sich Kinder übergeben. Was erbrochen wurde, mussten sie aber wieder essen.“ Zu vorgegebenen Zeiten hatten alle Kinder „aufs Töpfchen“ zu gehen. „Wer in 30 Minuten nicht konnte, wurde geschlagen.“ Das galt auch für diejenigen Kinder, die bei der allabendlichen demütigenden Kontrolle der Unterwäsche kein porentief reines Textil vorweisen konnten. Auch hier decken sich die Schilderungen mit vielen anderen Zeitzeugenberichten, die Ähnliches erzählen. „Eine Kindheit in der Nachkriegszeit“, bilanziert Wohlfarth, „war für viele Menschen keine schöne Zeit. Nicht in den Einrichtungen. Und sicher auch nicht in jeder Familie.“