Der Schulleiter hat seine Lektion gelernt. „Wenn früher Eltern zu mir kamen und mich fragten, ob ihre Kinder der Schule eine Weile fernbleiben könnten, um ihnen bei der Arbeit zu helfen, war ich einverstanden“, erzählt Claudius Oketch, Direktor der Oboth-Grundschule in Erussi im äußersten Nordwesten Ugandas, recht freimütig. Das war vor 2015, in seinem alten Leben. Bevor die Nationale Lehrergewerkschaft UNATU in seiner entlegenen Gegend eine Fortbildung organisiert hatte, an der er teilnahm. Mittlerweile weiß Oketch, was er zu sagen hat, wenn Eltern mit einem solchen Ansinnen an ihn herantreten: „Ich erkläre ihnen, dass es undenkbar ist, dass ein Kind nicht zur Schule geht, um zu arbeiten. Nicht einmal für einen Tag!“
Erussi ist ein Dorf in der West-Nil-Provinz unweit der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo. Kaffeeanbau ist das wirtschaftliche Rückgrat der Region. Kinder sind hier vielfach als Haushaltshilfen beschäftigt, auf den Kaffeeplantagen, als Straßenhändler. Als die UNATU vor vier Jahren mit dem Aufbau der „kinderarbeitsfreien Zone“ begann, hatte sie zunächst die Lehrkräfte mit den Grundsätzen zeitgemäßen Unterrichtens und einer kinderrechtssensiblen Lebensführung vertraut zu machen.
Regelmäßig zum Dienst erscheinen. Darauf achten, dass die eigenen Kinder zur Schule gehen. Keine fremden Kinder im Haushalt beschäftigen. Mittlerweile zählt das in den Kollegien der 15 vom Projekt erfassten Schulen zu den Selbstverständlichkeiten. Dank gewerkschaftlicher Fortbildung ist heute auch der Rohrstock aus den Klassenzimmern verbannt, haben alternative Methoden pädagogischer Disziplinwahrung die Prügelstrafe verdrängt.
„Wir achten jetzt jeden Tag darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler anwesend sind, und wir haben auch die Leistungen im Blick. Beim geringsten Anzeichen, dass die Motivation eines Schülers nachlässt, greifen wir ein.“ (Claudius Oketch)
Schuldirektor Oketch ist angetan von dem neuen Geist: „Wir achten jetzt jeden Tag darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler anwesend sind, und wir haben auch die Leistungen im Blick. Beim geringsten Anzeichen, dass die Motivation eines Schülers nachlässt, greifen wir ein.“ Der Schulhof ist mit Spruchbändern dekoriert. „Bildung ist die beste Investition“ ist da zu lesen. Oder: „Redet über eure Probleme mit den Lehrern.“ An jeder der 15 Schulen in Erussi gibt es mittlerweile Sportvereine, Musik- und Tanzgruppen, Debattierclubs. „Das macht die Schulen attraktiv für Kinder, die früher nicht im Traum daran gedacht hätten, hinzugehen“, sagt Schwester Mary Berocan, die für UNATU das Projekt in Erussi koordiniert. „Sie sehen die Trommeln, die Spiele, die Turniere, und sie machen sich ein anderes Bild vom Schulalltag.“
Im Kampf gegen Kinderarbeit hat die Gewerkschaft ein in der Region einflussreiches Unternehmen an ihrer Seite. Die Firma Kyagalanyi mit Sitz in der Hauptstadt Kampala zählt zu den wichtigsten Kaffee-Exporteuren Ugandas. Sie legt Wert darauf, dass die Kleinproduzenten in der West-Nil-Provinz, von denen sie ihre Kaffeebohnen bezieht, keine Minderjährigen beschäftigen und ihre eigenen Kinder zur Schule schicken. Das ist eine der Voraussetzungen, um das begehrte Gütesiegel der niederländischen Stiftung UTZ zu erhalten – „utz“ ist das Maya-Wort für „gut“. Die Stiftung bewertet und zertifiziert weltweit die Anbaubedingungen von Kaffee, Tee, Haselnüssen sowie Kakao. Wer in einem europäischen Supermarkt ein Produkt mit UTZ-Siegel kauft, soll sich unter anderem darauf verlassen können, dass Minderjährige bis zum Alter von 15 Jahren an der Herstellung nicht beteiligt waren – ein Konkurrenzvorteil auf dem Weltmarkt für das ugandische Unternehmen.
Unterstützung erfährt das Projekt „kinderarbeitsfreie Zone“ auch von einer seit dem Jahr 2000 im Nordwesten Ugandas arbeitenden Selbsthilfeorganisation zur Stärkung des ländlichen Raumes, deren Name CEFORD für „Community Empowerment for Rural Development“ steht. Sie betreut unter anderem Spar- und Kreditvereine, die dazu beitragen, die Wirtschaftskraft der Bevölkerung zu heben. Gemeinsam werben Gewerkschaft, Unternehmen, Selbsthilfeorganisation sowie lokale Behörden für einen Bewusstseinswandel. „Das hilft, jene Eltern zu überzeugen, die der Idee, ihre Kinder zur Schule zu schicken, noch zurückhaltend gegenüberstehen, weil sie den Druck der gesamten Gemeinschaft spüren“, sagt Adole Kelemente, Lehrer an der Kelle-Grundschule in Erussi. Argumentationshilfen für das Gespräch mit solchen Eltern verdanke er der gewerkschaftlichen Fortbildung, setzt Kelemente hinzu.
„Jeden Montagmorgen ziehen Lehrer und Schüler meiner Schule durchs Dorf. Wir fordern alle Kinder, denen wir auf der Straße begegnen, auf, sich uns anzuschließen. So haben wir schon Dutzende Mädchen und Jungen in die Schule geholt.“ (Grundschuldirektor)
Zwischen 2015 und 2019 ist in Erussi die Schülerzahl an den 15 am Projekt beteiligten Schulen um 28 Prozent gestiegen. Erheblich abgenommen hat im selben Zeitraum der Anteil der Kinder, die dem Unterricht fernbleiben. Auch die Gewerkschaft profitiert, unter anderem durch einen Mitgliederzuwachs um 23 Prozent seit Beginn des Projekts in Erussi. „Früher wurden wir als Interessengruppe gesehen, die sich nur um Probleme des Lehrpersonals kümmerte und öfter für Streiks verantwortlich war. Mittlerweile hat die Bevölkerung verstanden, dass wir uns auch für gute Bildung und das Wohl der Kinder einsetzen“, sagt Mori Samuel Sidoro, UNATU-Repräsentant in der West-Nil-Provinz.
Eine weitere kinderarbeitsfreie Zone entsteht derzeit unweit von Erussi im Bezirk Zombo, wo bisher 90 Lehrkräfte aus zwölf Schulen an einer Fortbildung der UNATU teilgenommen haben. „Jeden Montagmorgen ziehen Lehrer und Schüler meiner Schule durchs Dorf. Wir fordern alle Kinder, denen wir auf der Straße begegnen, auf, sich uns anzuschließen. So haben wir schon Dutzende Mädchen und Jungen in die Schule geholt“, sagt ein beteiligter Grundschuldirektor. Es gibt freilich eine Kehrseite der Erfolgsgeschichte: Klassen, in denen mehr als 200 Schülerinnen und Schüler sitzen. Der Kampf gegen Kinderarbeit ist das eine. Mehr Schulen und mehr Lehrkräfte ist eine weitere dringliche UNATU-Forderung.
Aus dem Französischen: Winfried Dolderer, freier Journalist