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Traumatische Erfahrungen

Kinder zwischen Flucht und mentaler Gesundheit

In der Debatte über Migration und Flucht werden deren Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland missachtet.

Mehr als ein Drittel der nach Deutschland geflüchteten Menschen sind Kinder. Viele leiden aufgrund ihrer Gewalt- und Fluchterfahrung an psychischen Störungen und benötigen psychosoziale sowie therapeutische Unterstützung. (Foto: IMAGO/Panthermedia)

Die Zahl der Geflüchteten erreichte laut des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 2023 weltweit einen neuen Höchststand: 117,3 Millionen Menschen, darunter 47 Millionen Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre sind, mussten aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Land verlassen. Mehr als ein Drittel der 2022 nach Deutschland geflüchteten Menschen waren Kinder. Fast 500.000 geflüchtete Kinder aus Ländern wie der Ukraine, Syrien oder Palästina besuchen derzeit deutsche Schulen.

Ihre Fluchterlebnisse sind ständiger und nicht bearbeiteter Begleiter ihres Alltags. Nach ihrer Ankunft in Deutschland sind geflüchtete Kinder und Jugendliche oft prekären Bedingungen in Sammelunterkünften ausgesetzt. So fehlt es ihnen laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) dort an Privatsphäre, kindgerechten Räumen und adäquater Hygiene. Die Kinder und Jugendlichen sind oft Gewalt ausgesetzt und haben nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialen Kontakten außerhalb der Unterkünfte.

Kaum systematische Diagnosen psychischer Störungen

Einen rechtlichen Rahmen und Richtlinien für den Schutz geflüchteter Kinder in Aufnahmeländern soll die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) von 1992 bieten. Artikel 22 verpflichtet Staaten, den Kindern spezifischen Schutz und Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und einem sicheren, gewaltfreien Umfeld zu bieten – unabhängig von ihrem rechtlichen Status. In der Praxis scheitert die Umsetzung dieser Rechte jedoch häufig, wie die Situation geflüchteter Kinder in Deutschland und anderen Ländern zeigt. Überfüllte Unterkünfte, fehlende Privatsphäre und unzureichender Schutz vor Gewalt machen diese Kinder häufig zu Missbrauchsopfern. Solche Lebensbedingungen verstoßen gegen die UN-KRK und zeigen die Lücken zwischen rechtlichen Verpflichtungen und der politischen Realität auf.

Darüber hinaus verpflichtet Artikel 24 die Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass jedes Kind Zugang zu medizinischer Versorgung und Gesundheitsdienstleistungen hat. Er garantiert das Recht auf Gesundheit. Dies umfasst auch psychosoziale Unterstützung, denn die Flucht birgt besondere Risiken für die psychische Gesundheit. Eine Studie unter syrischen Geflüchteten in Istanbul zeigt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen von Angststörungen, Depressionen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) betroffen sind. In Deutschland gibt es jedoch kaum systematische Diagnosen psychischer Störungen Geflüchteter. Bei der Registrierung in einer deutschen Erstaufnahmestelle gibt es nur eine ärztliche Untersuchung nach infektiösen körperlichen Krankheiten. Das widerspricht den Anforderungen in Artikel 24 der UN-KRK.

Koordinierte Anstrengung nötig

Die Forschung verdeutlicht, dass traumatische Erfahrungen eng mit emotionalen Verhaltensproblemen sowie somatischen Symptomen verbunden sind. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind besonders häufig von psychischen Störungen betroffen. Die UN-KRK bietet in der Theorie einen starken Rahmen für den Schutz und die Unterstützung geflüchteter Kinder – die praktische Umsetzung dieser Rechte ist jedoch oft vom politischen Willen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig.

Die aktuelle deutsche Migrationspolitik steht den Bestrebungen der UN-KRK entgegen. Das macht es schwierig, die Rechte der Kinder und Jugendlichen in vollem Umfang zu garantieren. Nationalistische Diskurse überlagern oft die notwendigen Reformen. Trotz der rechtlichen Rahmenbedingungen, die die UN-KRK setzt, fehlt es an konkreten Maßnahmen, die sicherstellen, dass diese Rechte auch tatsächlich greifen. Um die mentale Gesundheit der Kinder nach ihrer Flucht zu verbessern, braucht es eine koordinierte Anstrengung: Staaten dürfen die UN-KRK nicht nur ratifizieren, sondern müssen auch gezielt lokale Maßnahmen ergreifen, etwa für eine bessere Gesundheitsversorgung und mehr Schutz, die Überwindung bürokratischer Hürden und eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die besonderen Bedürfnisse geflüchteter Kinder. 

Nur so kann gewährleistet werden, dass die UN-KRK nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis wirkt. Ein gesamtgesellschaftliches Engagement ist erforderlich, um den Zugang zu psychischen Interventionen wie traumafokussierter Psychotherapie sicherzustellen. 

*Sabrina Seikh studiert Rechtswissenschaften, David Phan Klinische Psychologie und Psychotherapie; Hadi Merhi ist Filmstudent für Dramaturgie und Drehbuch.