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Coronakrise

Keine Chance für Einstein

Die Corona-Pandemie nötigt dem Schulsystem einen gewaltigen Feldversuch auf. Es geht plötzlich darum, ob man unabhängig vom Klassenverbund und ohne die physische Präsenz der Lehrkräfte lernen kann.

Foto: Kay Herschelmann

Hier sollte eigentlich ein ganz anderer Artikel stehen. Er hätte damit begonnen, einen Blick auf Albert Einstein als Schüler zu werfen. Der geniale Physiker war in der Schule eher ein unaufmerksamer Tagträumer. Das hat er mit vielen kreativen Talenten gemeinsam. Solchen Schülerinnen und Schülern würde ihre Kreativität gründlich ausgetrieben, wenn die Digitaltechniken flächendeckend eingesetzt werden, wie sie zum Beispiel in New Yorker Versuchsschulen bereits erprobt wurden. Der Unterricht wird dort nicht mehr von einem Lehrer geleitet, sondern von einer Künstlichen Intelligenz (KI), die ihre Schüler und alle ihre Klicks, ihre Mimik und Gesten mit Kameras überwacht. Einsteins Tagträume hätten da keine Chance gehabt. Etwa so wollte ich meine Kritik an einer fragwürdigen Digitalisierung der Schulen beginnen.

Aber jetzt ist alles anders. Die Corona-Pandemie nötigt dem Schulsystem einen gewaltigen Feldversuch auf. Es geht plötzlich darum, ob man unabhängig vom Klassenverbund und ohne die physische Präsenz der Lehrkräfte lernen kann. Das geht nur mit Digitaltechnik – und deshalb sind die Schulen im Vorteil, die bereits in solche Technik investiert haben. Hätte es den Digitalpakt schon vor ein paar Jahren gegeben, dann wäre die Notversorgung der Schülerinnen und Schüler mit Unterrichtsersatz heute leichter möglich. Ja, sicher. Andererseits erleben gerade viele Eltern hautnah, wie schwer es ist, Kinder ganz individuell zum Abarbeiten digital gestellter Aufgaben zu bringen.

Analoge Kommunikation im Schulalltag nicht nur in der jetzigen Ausnahmesituation durch digitale zu ersetzen, wird nicht funktionieren.

Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, wie gerne die Schülerinnen und Schüler wieder in Klassen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern zusammenkommen werden, um gemeinsam zu lernen. Der Mensch ist von Natur ein soziales Wesen, das sich vielfältiger analoger Kommunikationsformen bedient – mit fünf analogen Sinnen wird er geboren. Diese haben Lehrkräfte und Schüler bisher genutzt. Analoge Kommunikation im Schulalltag nicht nur in der jetzigen Ausnahmesituation durch digitale zu ersetzen, wird nicht funktionieren.

Was Medien- und Digitalfirmen den Schulen seit Jahren vorschlagen, erinnert in irritierender Weise in wesentlichen Punkten an das, was mit der Corona-Krise entstanden ist. Auch sie wollen das gemeinsame Lernen in Schulklassen zugunsten individueller Lernformen zurückfahren. Die Klassen würden zwar nicht wie in diesen Wochen aufgelöst, sollen jedoch eine immer geringere Rolle spielen, weil ja der Unterricht, wie es euphorisch heißt, „individualisiert“ wäre. Man sollte treffender sagen: entindividualisiert, weil KI den Schüler unterrichtet, nicht mehr menschliche Individuen. Medien- und Digitalfirmen wollen die Lehrkräfte zu „Lernbegleitern“ degradieren, wie inzwischen sogar die Kultusministerkonferenz (KMK) formuliert – so, als ob die Entscheidung darüber bereits gefallen wäre. Die Corona-Krise zwingt sie in eine Rolle, in der sie in der Tat meist kaum mehr können, als aus der Ferne das vereinzelte Lernen zu begleiten.

Ist nicht die Schulklasse eine ganz wichtige Sozialisationsinstanz, in der Schülerinnen und Schüler noch viel, viel mehr lernen als zu lesen und zu rechnen?

In dem Buch „Die digitale Bildungsrevolution“ sagen die beiden Autoren Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt (beide von der Bertelsmann Stiftung, Dräger sitzt im Vorstand) in dankenswerter Offenheit, was aus Lehrerinnen und Lehrern werden soll: „In der neuen Bildungswelt verändern sich auch Rolle, Aufgaben und Status der Lehrkräfte. Ihre Rolle wandelt sich, da sie von Wissensvermittlern zu Lernbegleitern werden.“

Es fragt sich: Wollen wir, dass so etwas zum Standardmodell wird? Wollen das die Eltern? Ist nicht die Schulklasse eine ganz wichtige Sozialisationsinstanz, in der Schülerinnen und Schüler noch viel, viel mehr lernen als zu lesen und zu rechnen? Zum Beispiel, sich vor kleinem Publikum zu artikulieren, sich mit einem Lehrer auseinanderzusetzen, mit Mitschülern gemeinsame Projekte zu starten? Aber das ist es eben, was Digitalfirmen ändern wollen, weil sich nur so Profite erwirtschaften lassen: Wissen wird aus dem personenbezogenen Kontext herausgelöst und von ihnen „organisiert“, wie Larry Page sagt, der die Suchmaschine Google mitentwickelt hat. In den USA hat Google sogar eine ganze Abteilung für Lehrinhalte aufgebaut: „Google Expedition“.

Schutzraum Schule

Reicht es tatsächlich, Jugendlichen 60 Digitalkompetenzen beizubringen, wie das die KMK in ihrem Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ vorschlägt? Besonders erschreckend ist, dass den jungen Leuten darin zwar eine Art Gebrauchsanleitung für das Internet gegeben wird – aber diese hat nur zwei Kapitel: Internet privat und Internet beruflich. Was aber ist mit dem dritten Kapitel Internet politisch? Soll unsere Jugend nicht einbezogen werden in die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen, die notwendig präziser formuliert werden müssen, damit das Internet nicht zu einem gefährlichen Moloch wird, der unsere Demokratie verschlingt?

Genauso vermisst man im KMK-Papier, dass die Fantasien aufgegriffen werden, die viele Jugendliche bewegen. In Filmen, die sie sich ansehen, tauchen Androiden auf. Der Unterschied zwischen Mensch und Maschine scheint zu verschwinden. Der Mensch wird zum Ding, das man immer besser steuern kann, geht auf im Internet der Dinge. Kein verbindliches Thema für die Schule?

Sicher ist, dass eine Schule, die sich auf Gedeih und Verderb an Digitaltechnik bindet, durch Viren der anderen Art zu einem verheerenden digitalen Shutdown gezwungen werden könnte.

Es reicht nicht, Jugendliche zu trainieren, geschäftlich erfolgreich mit dem Internet zu arbeiten. Schule muss auch Schutzzone sein, in der man reflektiert, was das Internet mit uns und der Demokratie macht – und sie muss in einer Zeit, in der immer weniger Jungen und Mädchen basteln, sich gerade analogen Techniken verstärkt zuwenden. Sonst dürfte sich der Handwerkermangel dramatisch vergrößern. Sollten nicht wenigstens die Handwerkskammern hier zustimmen?

Jetzt bieten einige Digitalfreunde forcierte Digitalisierung als Mittel an, um Schulen pandemiefest zu machen. Sie übersehen ein anderes düsteres Szenario, das wir genauso gerne verdrängen: Auch die digitale Infrastruktur ist anfällig. Kürzlich musste die Universität Gießen aufgrund eines Hackerangriffs ganz schnell sämtliche Rechner vom Netz nehmen – für 14 Tage. Das könnte auch einmal in größerem Maßstab nötig sein. Sicher ist, dass eine Schule, die sich auf Gedeih und Verderb an Digitaltechnik bindet, durch Viren der anderen Art zu einem verheerenden digitalen Shutdown gezwungen werden könnte. Wäre es da nicht besser, man behielte wenigstens die alten Kreidetafeln als Reserve?

Der Autor war über vier Jahrzehnte als Lehrer und in der Lehrerfortbildung tätig. Von ihm ist aktuell das Buch Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung – eine Kritik (Evangelische Verlagsanstalt) erschienen.