Erinnerungs- und Gedenkstättenpädagogik
Kein richtig oder falsch
Biografische Bezüge zur Shoah schwinden, je mehr Zeit seit 1945 vergeht. Gleichzeitig steigt die Zahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die meist keinen familiären Bezug zur NS-Zeit haben. Was bedeutet das für die Erinnerungsarbeit?
Eine Studie der Körber-Stiftung ging 2017 der Frage nach, wie weit die Shoah im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung in Deutschland verankert ist. 10 Prozent der Befragten wussten demnach nicht, dass Auschwitz-Birkenau ein Vernichtungslager war. Bei den Menschen, die jünger als 30 Jahre sind, waren es sogar 20 Prozent. 2021 kam die MEMO-Studie (Multidimensionaler Erinnerungsmotor) der Universität Bielefeld zu einem ähnlichen Ergebnis. Zwar gaben 85 Prozent der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer an, von der Judenverfolgung in der NS-Zeit zu wissen, 15 Prozent konnten oder wollten allerdings auch auf Nachfrage nichts dazu sagen.
In vielen Familien werde mittlerweile nur noch selten oder gar nicht mehr über die NS-Zeit gesprochen, lautet das Fazit von Jonas Rees vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, der an der Studie mitgearbeitet hat. In zugewanderten Familien gebe es auch nichts zu bereden, weil der biografische Zugang fehle. Die Frage sei daher, wie Erinnerung über die ritualisierte Erinnerung an Gedenktagen hinaus persönlich relevant werden könne.
Fehler im Geschichtsunterricht
Elke Gryglewski, langjährige Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, führt die Erinnerungslücken in den zugewanderten Familien unter anderem auf Fehler im Geschichtsunterricht zurück. Lange sei die NS-Zeit in der Schule und in der Erinnerungskultur ausschließlich unter dem Aspekt betrachtet worden, welche Bedeutung die Ereignisse für deutsche Familien haben. Für Migrantinnen und Migranten sei die NS-Geschichte zwar durchaus präsent, gerade in arabischen Familien werde sie jedoch durch eigene Diskriminierungserfahrungen überlagert, meint -Gryglewski, die seit dem vergangenen Jahr Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten ist.
Heterogene statt homogene Erinnerungskultur
Ähnlich sieht das der Direktor des Jüdischen Museums im österreichischen Hohenems, Hanno Loewy. „Man kann in der Schule wie in der pädagogischen Arbeit in den Gedenkstätten schon lange nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass man es mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, deren Urgroß- oder Großeltern während der NS-Zeit Täter, Mitläufer oder im Widerstand waren.“ Migranten seien ein Teil der Gesellschaft, so Loewy gegenüber E&W. „Das bedeutet auch, sie müssen Verantwortung für die Geschichte dieses Landes übernehmen, zu der die NS-Zeit und die Shoah nun mal gehören.“
„Aus arabischer Perspektive ist Israel Teil der europäischen Kolonialgeschichte.“ (Hanno Loewy)
Als Folge der Arbeitsmigration und der Fluchtbewegungen der vergangenen Jahrzehnte könne man heute nicht mehr von einer homogenen Erinnerungskultur sprechen, so Loewy weiter. Vom pädagogischen Standpunkt aus betrachtet sei es daher wichtig, andere Perspektiven und Erfahrungen nicht zu delegitimieren. „Aus arabischer Perspektive ist Israel Teil der europäischen Kolonialgeschichte.“ Als Lehrkraft müsse man selbstverständlich Aussagen wie „Die Juden machen mit den Palästinensern heute das, was früher die Deutschen mit den Juden gemacht haben“ widersprechen. Eine Denunziation solcher Äußerungen als antisemitisch sei jedoch pädagogisch nicht sinnvoll. „Damit reproduziert man nur Herrschaft und Ausgrenzung, die es doch zu überwinden gilt, wenn man den auch in muslimischen Kreisen vorhandenen Antisemitismus gemeinsam aufarbeiten will.“
Zwei Konzepte
Wie aber könnte eine solche heterogene Erinnerungskultur konkret aussehen? Gryglewski schlug bereits 2009 zwei Konzepte vor. Zum einen könne man im Unterricht Schülerinnen und Schüler mit der Frage konfrontieren, wie sie selbst sich damals verhalten hätten, wenn ihre Nachbarn deportiert oder wenn sie von Verbrechen erfahren hätten. Ein anderes Konzept könne darin bestehen, in den Gedenkstätten ganz gezielt Dokumente zugänglich zu machen, die eine Verbindung zu den Herkunftsländern der Jugendlichen herstellen, etwa zum Schicksal türkischer Juden im Nationalsozialismus oder zu arabischen NS-Helfern.
Die Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema wiederum betont, dass es in der pädagogischen Arbeit mit migrantischen Kindern und Jugendlichen wichtig sei, neben der Shoah auch andere Geschichten zu thematisieren. Die Expertin für politische Bildung der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main nennt gegenüber der E&W unter anderem den Nahost-Konflikt, den Völkermord an den Armeniern, aber auch die Kriegsverbrechen in Vietnam, Afghanistan oder anderen Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten, die in Deutschland leben.
Gemeinsame Bezugspunkte finden
Die deutsche Kolonialgeschichte sowie andere Verbrechen und deren Auswirkungen dürften zwar nicht aus dem Blick geraten, gibt Loewy zu bedenken. Weder lasse sich aber die Shoah mit der deutschen Kolonialgeschichte erklären noch könne man andere Genozide auf eine Stufe mit der Vernichtung des europäischen Judentums stellen. Sicherlich sei ein Teil der Menschen, die in die Kolonialverbrechen involviert gewesen seien, später als NS-Täter hervorgetreten, und der Völkermord an den Armeniern habe manchen Nazis als Blaupause für die eigenen Verbrechen gedient. Im Unterricht müsse an unterschiedliche Verbrechen jedoch auch unterschiedlich erinnert werden.
Loewy ist dennoch davon überzeugt, dass sich gemeinsame Bezugspunkte zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Einwanderungsgeschichte finden lassen. Man müsse in der Erinnerungspädagogik mehr regionalspezifische Aspekte aufgreifen, beispielsweise Biografien von Opfern und Tätern aus der Region behandeln oder lokale Orte identifizieren, an denen es NS-Verbrechen – oder auch Widerstand gegen das NS-System – gab.
Museen statt Schule
Die Schule sei dafür aber ein schwieriger Ort, betont Loewy. Hier müssten einerseits Lehrkräfte ihre Autorität aufrechterhalten und andererseits gerade Schülerinnen und Schüler in der Pubertät gegen diese Autorität angehen. „In einer Unterrichtsstunde, in der es auch um Leistungsüberprüfung mittels Noten geht, lässt sich nicht auf Augenhöhe diskutieren. Schule muss rausgehen und sich in Räume begeben, in denen zumindest die Fiktion von Gleichheit – und sei es eine gemeinsame Unsicherheit – besteht.“
Dafür, so Loewy, seien nicht nur die Einrichtungen der Gedenkstätten geeignet, sondern auch jüdische Museen oder Museen, in denen man etwas über die regionale bzw. lokale Geschichte erfahren könne. „Museen sind offene Räume, weil sie die Neugier der Menschen wecken und es ermöglichen können, sich Themen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Vor allem sind Museen Orte, in denen man nicht bewertet wird und in denen es nicht per se Richtig oder Falsch gibt.“