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Interkulturelles Verständnis

Kein Mensch ist ohne Bildung!

Jede Kultur, jedes Milieu hat eigene Vorstellungen davon, welche Bildung wichtig ist. Die beiden Pädagoginnen Eylem Emir und Heidemarie Brosche werben in einem Podcast für mehr interkulturelles Verständnis.

  • E&W: Frau Emir, in dem Podcast „Ach so!“ wird gezeigt, was es für Kinder bedeutet, wenn -klassische Bildung in den Familien fern ist. Der Fokus liegt -dabei auf Familien mit Fluchtgeschichte. Warum?

Eylem Emir: Weil sich hier das systematische Problem der Bildungsbenachteiligung besonders deutlich zeigt. Geflüchtete kommen aus Ländern, in denen aufgrund der Folgen von Krieg und Verfolgung Schulbildung für viele Kinder und Jugendliche kaum oder gar nicht mehr möglich war. Oft gab es in diesen Staaten schon vor dem Krieg kein gut ausgebautes Schulsystem. Selbst-verständlich gilt das nicht für alle; es gibt hervorragende Beispiele von Familien, die gut mit dem hiesigen Schulsystem zurechtkommen. Wir Pädagoginnen und Pädagogen müssen uns vor allem um die kümmern, die vor den Anforderungen kapitulieren, die das deutsche Schulsystem an sie stellt.

  • E&W: Wie äußert sich diese Überforderung?

Emir: Viele Eltern wissen nicht, was die Lehrkräfte in Deutschland von ihnen erwarten. Sie sind selbst nicht oder nicht lange zur Schule gegangen und beherrschen daher auch ihre Muttersprache nur unzureichend. Es existiert keine Lesekultur. Das sollte aber kein Grund für Herablassung sein. Kein Mensch ist ohne Bildung! In vielen Familien wird zwar nicht gelesen, dafür gibt es eine ausgeprägte Erzählkultur. Kinder werden daher sprachlich zu Hause anders als in der Schule gefördert. Ein ganz wichtiger Punkt ist: Vieles, was hierzulande als gemeinsame Aufgabe des Elternhauses und der Lehrkräfte gilt, wird in den Herkunftsländern als Aufgabe der Institution „Schule“ angesehen, in die sich Eltern nicht einzumischen haben.

  • E&W: Frau Brosche, warum fällt es Lehrkräften oft so schwer, sich in die Situation solcher Eltern und deren Kinder hineinzuversetzen?

Heidemarie Brosche: Ich habe als Lehrerin sehr oft erlebt, dass Kolleginnen und Kollegen sehr empört reagiert haben, wenn sie mit solchen Haltungen konfrontiert wurden, die Eylem eben beschrieben hat. In der Schule prallen zwei vollkommen unterschiedliche Welten aufeinander, die im privaten Bereich kaum oder gar keinen Kontakt haben. Lehrerinnen und Lehrer verzweifeln daran, dass die Eltern nicht mitziehen, und die Eltern daran, dass sie das, was die Schule von ihnen erwartet, nicht leisten können beziehungsweise gar nicht verstehen, was von ihnen gefordert wird.

  • E&W: Welchen Tipp können Sie Fachkräften der schulischen Bildung geben, um Konflikte zu vermeiden?

Brosche: Wir Lehrkräfte müssen lernen, uns in die Situation der Eltern hinein zu fühlen und zu denken. Wir müssen verstehen lernen, dass viele Eltern nicht zugeben wollen, dass sie den Anforderungen, die die Schule an sie stellt, nicht gerecht werden, dass sie ihren Kindern nicht helfen können, weil sie selbst nur wenig Bildung haben – und sich dafür schämen.

Emir: Lehrerinnen und Lehrer müssen sich über die Herkunft der Schülerinnen und Schüler informieren. Dabei wollen unser Podcast und unsere Artikelserie helfen.

  • E&W: Zu den Benachteiligten im Schulsystem zählen allerdings nicht nur Menschen mit Migrationsgeschichte.

Brosche: Ja, vieles von dem, was in dem Podcast Thema ist, betrifft auch Familien ohne Einwanderungsgeschichte. In unseren Beiträgen sind auch sie ein Thema. Es gibt aber zwei zentrale Unterschiede zwischen den sogenannten biodeutschen Kindern und denen, die zugewandert sind: Die Sprache ist fremd, und der kulturelle Hintergrund ist ein anderer.

Emir: Kinder ohne Migrationshintergrund haben selbst dann, wenn sie zu Hause kein lernanregendes Umfeld vorfinden, in der Regel Eltern, die wissen, was Lehrerinnen und Lehrer von ihren Kindern erwarten, die im hiesigen Schulsystem sozialisiert wurden, auch wenn sie meist selbst nur einen niedrigen Schulabschluss erreicht haben. Dazu kommt, dass Lehrkräfte Kinder aus ihrer eigenen Kultur einfach besser verstehen können. 

Eylem Emir, Türkin arabischer Herkunft, ist interkulturelle Trainerin und arbeitet als Erzieherin an der Schillerschule in Augsburg, einer Grund- und Mittelschule. Über 95 Prozent der Schülerschaft stammen aus Familien, die ihre Wurzeln nicht in Deutschland haben – und oft noch nicht lange hier sind. Viele Jahre war sie als Stadtteilmutter aktiv.

Heidemarie Brosche, Kinder- und Jugendbuchautorin, hat lange an der Schillerschule in Augsburg als Lehrerin unterrichtet. Gemeinsam mit Eylem Emir hat sie den Podcast „Ach so!“ ins Leben gerufen.

Der Podcast basiert auf der Artikelserie „Bildungsfern? Bildungs-anders!“ des Online-Magazins SCHULE.

„Wir Pädagoginnen und Pädagogen müssen uns um die geflüchteten Kinder und Jugendlichen kümmern, die vor den Anforderungen kapitulieren, die das deutsche Schulsystem an sie stellt.“ (Eylem Emir, Erzieherin und interkulturelle Trainerin)
„In der Schule prallen zwei vollkommen unterschiedliche Welten aufeinander, die im privaten Bereich kaum oder gar keinen Kontakt haben.“ (Heidemarie Brosche, Jugendbuchautorin und ehemalige Lehrerin)