Pädagogik und Digitalisierung
Kein Ersatz für die Präsenzlehre
Die Corona-Krise hat die Hochschulen unvorbereitet getroffen. Die Erfahrung könnte zu einer Neubewertung der Onlinelehre führen.
Kitas, Schulen, Theater, Baumärkte, Biergärten, sie alle öffnen wieder nach Wochen des Corona-Lockdowns und kehren unter Schutzauflagen zum Normalbetrieb zurück. Nur bei den Hochschulen gibt es bislang keine Diskussion über eine Rückkehr in Hörsaal und Seminarraum, monierten Anfang Juni mehr als 3.000 Hochschullehrende. In einem offenen Brief, den der Frankfurter Germanistik-Professor Roland Borgards initiiert hatte, riefen sie zur Verteidigung der Präsenzlehre auf und forderten „eine vorsichtige, schrittweise und selbstverantwortliche Rückkehr zu Präsenzformaten“.
Digitale Elemente leisteten mittlerweile einen wertvollen Beitrag zur Hochschullehre, heißt es in dem Brief. Für das Corona-Sommersemester 2020 hätten sie sich als „glückliche Rettung“ erwiesen, da sich das Semester sonst nicht hätte durchführen lassen. Dennoch könne Onlinelehre nur eine Ergänzung sein. Begegnung, Austausch und das Gespräch zwischen Anwesenden seien „nicht verlustfrei“ in virtuelle Formate zu übertragen.
Dass Onlineformate die Hochschullehre ergänzen, aber nicht ersetzen können, ist eigentlich Konsens. „Niemand fordert das“, sagt Volker Meyer-Guckel, der als stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft der Onlinelehre grundsätzlich positiv gegenübersteht. „Es geht vielmehr um eine kluge Mixtur“, erklärt er. „Also Präsenzlehre, die mit Online-Elementen angereichert ist.“
„Der Einsatz von Online-Tools ist kein Allheilmittel, das automatisch die Lehre verbessert, und eine reine Onlinelehre wäre der falsche Weg.“ (Andreas Keller)
Auch GEW-Vorstandsmitglied Andreas Keller sieht das so. „Der Einsatz von Online-Tools ist kein Allheilmittel, das automatisch die Lehre verbessert, und eine reine Onlinelehre wäre der falsche Weg“, sagt der GEW-Hochschulexperte. „Sie kann eine Ergänzung zur Präsenzlehre sein, diese aber niemals ersetzen.“ Wird die Corona-Erfahrung zu einer Neubewertung führen, die der Onlinelehre mehr Gewicht einräumt? „Noch ist es zu früh, um eine Prognose abzugeben“, sagt Keller. „Wir wissen schließlich noch nicht, wie es im Wintersemester weitergeht.“
Für eine erste Einschätzung hilft aber ein kurzer Blick zurück. Vor zehn Jahren elektrisierte ein neues Online-Tool die Bildungslandschaft. Die sogenannten Massive Open Online Courses (MOOCs) versprachen damals, das akademische Leben weltweit zu revolutionieren. Auslöser war ein Kurs der Stanford University von 2011 zu künstlicher Intelligenz. 160.000 Teilnehmende aus 190 Ländern waren dabei, mehrere Tausend schlossen den Kurs mit Zertifikat ab.
„Relativ schnell setzte Ernüchterung ein, als deutlich wurde, dass zentrale Funktionen des traditionellen Hochschulsystems nicht oder nur sehr eingeschränkt erfüllt werden konnten.“ (Otto Hüther)
Ein beispielloser Hype folgte, mit Hoffnungen, die ähnlich weitreichend waren wie beim Start des World Wide Web. Gerechter, freier, demokratischer und auch kostengünstiger würde die Hochschulbildung werden, so die Vision. Individuelles Lernen und Massenausbildung würden gleichzeitig möglich sein, wenn man Onlinekurse für sehr viele Menschen („massive“) anbietet und es für alle freien Zugang („open“) gibt.
„Die großen Hoffnungen haben sich nicht erfüllt“, sagt der Soziologe Otto Hüther, der gemeinsam mit einem Kollegenteam von den Universitäten in Kassel und Hannover kürzlich eine Studie zu internationalen und nationalen Entwicklungen und Zukunftsperspektiven von MOOCs vorgelegt hat. „Relativ schnell setzte Ernüchterung ein, als deutlich wurde, dass zentrale Funktionen des traditionellen Hochschulsystems nicht oder nur sehr eingeschränkt erfüllt werden konnten.“
Zu diesen zentralen Funktionen zählt Hüther auch das Erlernen von diskursiven Fähigkeiten in Face-to-Face-Situationen, also genau das, was die Lehrenden in ihrem offenen Brief anmahnen. Aber auch regulatorische Probleme gibt es, etwa die Frage, wie die Zertifizierung erfolgen soll, sodass erworbenes Wissen eindeutig einer Person zugeordnet werden kann. Oft sind Kurse dann nicht mehr für alle offen, sondern auf eingeschriebene Studierende begrenzt, also streng genommen gar keine echten MOOCs mehr.
„Der Hype ist vorbei“, sagt auch Meyer-Guckel vom Stifterverband. „Aber es gibt MOOCs noch immer, nur eben mit verändertem Konzept.“ Im Weiterbildungsbereich werden Onlinekurse verstärkt eingesetzt, beispielsweise wenn für die Aufnahme eines Masterstudiums noch ein bestimmtes Modul fehlt. Von einem flächendeckenden Einsatz, der Hochschulen möglicherweise sogar überflüssig machen könnte, ist keine Rede mehr, sehr wohl aber von einem gezielten.
Neue Zielgruppen
Das bestätigt auch Hüthers Studie. Demnach steigt die Zahl der MOOCs weltweit weiter an. Besonders aktiv sind dabei jene Staaten, die Defizite und Probleme in ihren Hochschulsystemen mit Online-Elementen bearbeiten wollen. „In angelsächsischen Ländern ist das Studium teuer, Hochschulen müssen um Studierende konkurrieren“, sagt Hüther. Durch MOOCs können neue Zielgruppen angesprochen und Kosten für die Studierenden gesenkt werden. „In Ländern wie China und Indien war es hingegen eine Reaktion auf Qualitätsprobleme im Hochschulsystem und ein rasch steigender Bedarf an Hochschulbildung“, so der Soziologe.
In Deutschland spielen diese Gründe keine Rolle. Die Hochschulen sind deshalb eher zurückhaltend, MOOCs anzubieten. Bei einer empirischen Befragung von 2015 gaben 40 Prozent der befragten Hochschulleitungen an, sie seien noch unschlüssig, was die eigene Positionierung zu MOOCs betrifft. Am aktivsten waren Hochschulen, die 30.000 oder mehr Studierende haben sowie private Hochschulen.
„Der Handlungsdruck war bislang eher gering“, sagt Hüther. „Allerdings könnte es jetzt zu einer Neubewertung kommen, denn durch Corona gibt es einen Anreiz, doch verstärkt Online-Tools einzusetzen.“ Viele Hochschulen standen bei Ausbruch der Corona-Pandemie unvorbereitet da und mussten improvisieren, da es, anders als beispielsweise in Frankreich, hierzulande keine nationale Plattform für Onlinekurse gibt, auf die man in dieser Situation hätte zurückgreifen können. Zwar haben einige Bundesländer MOOC-Initiativen, etwa Bayern. Doch in der Fläche fehlt ein solcher Back-up-Mechanismus. „Man könnte überlegen, ob man national oder länderübergreifend in verschiedenen Bundesländern eine Plattform zur Vorsorge aufbaut“, sagt Hüther.
„Dass dieses Semester dennoch irgendwie läuft, liegt an dem hohen Einsatz der Lehrenden und am Verständnis der Studierenden.“
Die Corona-Erfahrung hat viele Schwächen des deutschen Hochschulsystems aufgedeckt. „Aus vielen Rückmeldungen wissen wir, dass bestehende Ungleichheiten noch verschärft wurden“, sagt Keller. Wer kleine Kinder zu betreuen hat oder im Homeschooling unterstützen muss, für den sei es natürlich viel schwieriger, von zu Hause aus zu arbeiten. Studierende berichten über schlechte Internetverbindungen, die Onlinekurse mühsam machen, und von Mehrarbeit, da nun sehr viel in Eigenregie organisiert werden muss. „Dass dieses Semester dennoch irgendwie läuft, liegt an dem hohen Einsatz der Lehrenden und am Verständnis der Studierenden. Corona kann durchaus auch eine Chance sein“, so GEW-Experte Keller. „An den Hochschulen werden derzeit Erfahrungen gesammelt, wie und in welchem Umfang man am besten Onlinewerkzeuge einsetzt.“
Falls es aber noch ein weiteres Onlinesemester geben sollte, müsse nachgelegt werden. „Gute technische und didaktische Konzepte sind genauso nötig wie Tools, die Interaktion ermöglichen.“ Am Grundproblem ändert sich aus Kellers Sicht dadurch aber nichts. „Seit Jahren arbeiten die Hochschulen unter Überlastbedingungen“, sagt er. „Dass das Konjunkturpaket der Bundesregierung weder einen Hochschul-Digitalpakt noch eine wirksame Soforthilfe für Studierende vorsieht, ist traurig.“ Stattdessen sei gerade das Nachfolgeprogramm des Qualitätspakts Hochschule von Bund und Ländern gekürzt worden. „Das ist unerklärlich und wird dazu führen, dass viele sinnvolle Projekte abgebrochen werden müssen.“