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Privatisierung und Lobbyismus

Kampf um die Köpfe

Der zunehmende Wirtschaftslobbyismus im Schulwesen führt zu einem verengten und funktionalistischen Bildungsverständnis. Ökonomische und finanzielle Bildung muss hingegen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sinnvoll verbinden.

Wovon Wirtschaftslobbyisten träumen … (Foto: mauritius images/Mahmoud tawakal/Alamy)

Es vergeht kein Jahr, in dem nicht mindestens eine Studie in Deutschland erscheint, die jungen Menschen große Wissenslücken beim Thema Wirtschaft und Finanzen bescheinigt. Sie stammen zumeist von Organisationen der Finanz- und Versicherungsbranche. Auch steigt die Zahl kostenloser Unterrichtsmaterialien. Unter Titeln wie „So geht Geld!“, „Hoch im Kurs“ oder „My Finance Coach“ nehmen sie für sich in Anspruch, einschlägiges Wissen über Finanzen, Geldanlagen oder private Altersvorsorge zu vermitteln.

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‚ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.“ Mit diesem Tweet hatte eine 17-jährige Abiturientin Anfang 2015 eine hitzige Diskussion über Schule und Bildungsinhalte ausgelöst, die nicht zuletzt den Vertretern der Finanzbildung sehr gelegen kam und bis heute für Forderungen Pate steht wie: „Wer lernt, Gedichte zu interpretieren, sollte auch den eigenen Handyvertrag verstehen.“ So Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) 2019.

Begründete Wissensdefizite

Bevor die Literaturanalyse diskreditiert und eilfertig neue Schulthemen proklamiert werden, ließen sich die von der jungen Frau formulierten Wissensdefizite durchaus anders erklären als durch das Versagen der Schule. Das Nichtwissen der Schülerin liegt zunächst darin begründet, dass sie schlichtweg noch nicht in der Situation war, eine Steuererklärung anfertigen, eine Wohnung mieten oder eine Versicherung abschließen zu müssen. Wenn sie – wie viele ihrer Altersgenossinnen und -genossen – nun studiert und erst in einigen Jahren das Elternhaus verlässt, wird sie vieles, was sie mit 17 über Mieten und Versicherungen oder gar über Geldanlagen gelernt haben könnte, vergessen haben. Und das ist vielleicht auch gut so, denn instrumentelle Informationen hierüber sind nach zehn Jahren nicht mehr viel wert.

Lesen und Rechnen hilft

Die Funktion und Systematik von Steuern zum Beispiel sind sozialwissenschaftliche, bisweilen auch mathematische Fragestellungen und gehören als solche in den Unterricht. Das Anfertigen der Steuererklärung hingegen nicht. Die Zinseszinsrechnung ist Teil des Fachs Mathematik. Auch ein Handy- oder Mietvertrag kann zum Unterrichtsthema werden. Aber bitte weder individualistisch noch im Sinne von trockenem Vertragsrecht, oberflächlichem Preisvergleich oder deskriptivem Halbwissen, sondern im Rahmen der Medienbildung, der sozialwissenschaftlichen Fächer oder der Mathematik. Auch müssen 17-Jährige nicht die Vorteile von Bausparverträgen oder die Unterschiede zwischen Aktien und Obligationen büffeln, wie dies der baden-württembergische Lehrplan für das Pflichtfach Wirtschaft vorsieht.

In den Studien zur finanziellen Bildung ist indessen immer wieder zu lesen, dass der Anteil richtiger Antworten auf Fragen zum Finanzwissen in der Regel mit Bildungsgrad, Einkommen oder auch Alter steigt. Daraus ließen sich zunächst ganz andere Schlüsse ziehen.

Erstens: Wer gut gelernt hat zu lesen und zu rechnen, ist auch beim Thema Geld besser orientiert. Dasselbe gilt übrigens auch für den Kompetenzerwerb mit digitalen Medien. Man könnte also ebenso gut die Verbesserung der Lese- und mathematischen Kompetenzen sowie die allgemeine Erhöhung des Bildungsgrads auf die Agenda setzen.

Reduzierte Perspektive

Zweitens: Nur wer Geld hat, kann den Umgang damit üben oder weiß über Anlageformen Bescheid. Hieraus wäre ebenso gut zu folgern, dass die ungleiche Verteilung von Chancen, Vermögen und Geld sowie deren Ursachen auf den Lehrplan gehören.

Drittens: Nur wer ein gewisses Alter erreicht hat, wird mit zentralen finanziellen Herausforderungen wie Altersvorsorge, Immobilienerwerb oder Kapitalanlage konfrontiert und stillt logischerweise erst dann seinen konkreten Bedarf an Finanzwissen. Das spräche schließlich für eine Stärkung der Verbraucherpolitik in Form unabhängiger Beratung und Unterstützung, die anlass- und zweckbezogen für Familien und Menschen jeden Alters offensteht. Gerne auch für Schulen analog der Angebote der Arbeitsagenturen zur Berufsorientierung.

Die Ursachen der Wirtschafts- und Finanzkrise und deren langfristige Kosten für die Allgemeinheit sind freilich nie Thema wirtschaftsnaher Studien und Materialien. Die Krise wurde in den vergangenen Jahren jedoch mitunter als Argument für mehr Finanzbildung in einer Weise bemüht, als hätte sie verhindert werden können, wenn die Anlegerinnen und Anleger bereits in der Schule Wissen über Aktien und andere Geldanlagen erworben hätten. Eine solch reduzierte Perspektive übersieht nicht nur, dass finanziell hoch gebildete Eliten die Krise wesentlich verursacht haben. Sie unterschlägt zudem politische Gestaltungsmöglichkeiten und produziert finanzielle Halbbildung.

Einseitige Ausrichtung

Bei der Forderung nach mehr ökonomischer – und mit ihr finanzieller – Bildung wird oft übersehen, wie stark sie in den vergangenen Jahren bundesweit bereits in den Stundentafeln und Lehrplänen aufgewertet worden ist. Nicht zuletzt durch die Einführung von Ankerfächern wie Politik-Wirtschaft oder Arbeit-Wirtschaft-Technik und zumeist zu Lasten der politischen Bildung. Baden-Württemberg hat sogar – auf Kosten von Gemeinschaftskunde und Geografie – ein Pflichtfach Wirtschaft eingeführt. Auch in Nordrhein-Westfalen sind die Sozialwissenschaften durch den Zuschnitt neuer wirtschaftsorientierter Fächer in Bedrängnis.

Die GEW hat bereits vor vielen Jahren gemeinsam mit dem DGB die einseitige Ausrichtung eines separaten Fachs an den Wirtschaftswissenschaften kritisiert, weil damit wirtschaftsliberale und an Effizienz ausgerichtete Perspektiven in Schule dominanter werden. Dabei drängen sich Dimensionen wie Demokratie, Humanisierung, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit oder sozialer Zusammenhalt – Werte nicht nur der Gewerkschaften, sondern auch vieler schulischer Rahmenlehrpläne – besonders beim Thema Ökonomie und Finanzwelt förmlich auf. Gerade die unregulierten Finanzmärkte haben soziale Verwerfungen erzeugt, die tief in das Leben junger Menschen hineinreichen können.

Kein separates Lerngebiet

In diesem Sinne muss ökonomische Bildung ausgewogen, multiperspektivisch, kontrovers und schülerinnen- bzw. schülerorientiert sein. Sie muss in Beziehung stehen zu globalen, gesellschaftlichen und persönlichen Schlüsselproblemen, anstatt ökonomische Probleme einseitig oder monodisziplinär zu behandeln und schlimmstenfalls die Lernenden auf ihre Rolle als Konsumentinnen und Konsumenten zu reduzieren. Die Gewerkschaften haben sich vor diesem Hintergrund per Beschluss auf Bundesebene für eine gute und umfassende sozioökonomische Bildung ausgesprochen, in der verschiedene Bezugsdisziplinen verzahnt sind.

Auch Geldfragen gehören in den Kontext von Gesellschaft und Politik. Sie müssen so behandelt werden, dass junge Menschen sich in der Welt orientieren und ihre sozialen Beziehungen, das Zusammenleben und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten reflektieren können. In diesem Sinne ist „Finanzbildung“ kein separates Lerngebiet, sondern Teil von „Wirtschaft“ in der „Gesellschaft“.

T. Engartner, G.-E. Famulla, A. Fischer, Ch. Fridrich, H. Hantke, R. Hedtke, B. Weber, B. Zurstrassen: Was ist gute ökonomische Bildung? Leitfaden für den sozioökonomischen Unterricht. Wochenschau-Verlag, Frankfurt am Main 2019.

Reinhold Hedtke: Anpassen oder aufklären? Finanzerziehung und sozioökonomische Bildung. In: GW -Unterricht 152 (4). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2018.

Martina Schmerr: Finanzielle Bildung: Lobbyistischer „Kampf um die Köpfe“ oder Verwirklichung eines umfassenden Bildungsanspruchs? DIW Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung. Duncker & Humblot, Berlin 2021.