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Livekonferenz „Wissenschaftspolitik auf dem Prüfstand“

„Jetzt müssen wir Bambule machen“

Die GEW hat ihre wissenschaftspolitischen Prüfsteine zur Bundestagswahl veröffentlicht. Sie fordert unter anderem eine BAföG-Reform und eine Entfristungsoffensive – und hat damit umgehend die Fachleute der Bundestagsfraktionen konfrontiert.

Die GEW erwartet von der nächsten Bundesregierung massive Fortschritte in der Hochschulpolitik. Durch umfassende Reformen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) und des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) soll es mehr Geld für deutlich mehr Studierende und mehr feste Jobs in der Wissenschaft geben. Der Bund soll die Länder bei der Grundfinanzierung der Hochschulen stärker unterstützen sowie Lehre und Studium mit einem Hochschuldigital- und einem Hochschulsozialpakt krisenfest machen. Dies sind vier Kernforderungen der wissenschaftspolitischen Prüfsteine mit dem Titel „Gutes Studium, gute Forschung, gute Arbeit“, die am Freitag veröffentlicht wurden.

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Lehre und Studium krisenfest machen

Auch im Jahr zwei der Pandemie ist ein Ende der der Coronakrise nicht in Sicht, ganz zu schweigen von deren Nachwirkungen, die uns weit über die Bundestagswahl hinaus belas- ten werden. Wie ein Brennglas hat die Krise Strukturdefizite unseres Bildungs- und Wissen-schaftssystems noch deutlicher sichtbar gemacht. Es kommt jetzt darauf an Lehre und Studium krisenfest zu machen! Die GEW fordert von Bundestag und Bundesregierung:

  • Entbürokratisierung und Transparenz, bedarfsgerechte Aufstockung und Verlängerung der Überbrückungshilfe für Studierende,
  • Verlängerung von BAföG, Stipendien und Zeitverträgen um die Zeit der pandemiebedingten Beeinträchtigung im Sinne eines kollektiven Nachteilsausgleich,
  • Ausbau der Förderung der internationalen Mobilität und des Auslandsaustauschs von Studierenden und Hochschulbeschäftigten nach Überwindung der Krise,
  • Abschluss eines Hochschuldigitalpakts, der den Ausbau, die Verbesserung und kontinuierliche Pflege der digitalen Infrastruktur an den Hochschulen fördert – dazu gehören auch Lehr- und Lernplattformen, -programme und -materialien, insbesondere auf Basis freier Software und Open Educational Ressources, Fort- und Weiterbildung sowie Beratung und Unterstützung von Lehrenden und Studierenden,
  • Vereinbarung eines Hochschulsozialpakts, mit dem Bund und Länder für bezahlbaren Wohnraum für Studierende und eine leistungsfähige soziale Infrastruktur auf den Campussen sorgen.

Ausbildungsförderung strukturell erneuern

50 Jahren nach seinem Inkrafttreten 1971 erfüllt das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) seinen Zweck nicht mehr. Wurden vor 50 Jahren noch 45 Prozent der Studierenden gefördert, sind es heute gerade noch elf Prozent. Wurde ursprünglich ein Vollzuschuss ge- währt, muss heute die Hälfte der Förderung nach dem Studium zurückgebezahlt werden. Es ist höchste Zeit für eine umfassende Erneuerung und Reform der Ausbildungsförderung! Die GEW fordert von Bundestag und Bundesregierung:

  • deutliche Erhöhung der BAföG-Fördersätze und Freibeträge und deren regelmäßige, automatische Anpassung an Preissteigerungen und Einkommensentwicklung,
  • Umstellung auch des Studierenden-BAföG auf einen Vollzuschuss, der nicht zurückgezahlt werden muss,
  • Verlängerung der Förderdauer um zwei Semester je gestuftem Studiengang, bei einstufigen Studiengängen Anpassung an durchschnittliche Studiendauer, und Abschaffung aller Altersgrenzen,
  • Vereinfachung und Digitalisierung der Antragstellung,
  • Wiedereinführung der Regelförderung von Schülerinnen- und Schülern an weiterführenden Schulen ab Klasse 10, auch an allgemeinbildenden und Fachoberschulen,
  • Einführung eines elternunabhängigen Studienhonorars, in einem ersten Schritt als erstem Sockel der Ausbildungsförderung,
  • Abschaffung des Deutschlandstipendiums und Überführung seiner Mittel in den BAföG-Haushalt,
  • bundesgesetzliches Verbot von Studiengebühren ohne Wenn und Aber, auch für Nicht- EU-Bürgerinnen und Bürger.

Dauerstellen für Daueraufgaben schaffen

Immer mehr Zeitverträge mit immer kürzeren Laufzeiten, lange und steinige Karrierewege: Das Hire-and-Fire-Prinzip an Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist nicht nur unfair gegenüber den hoch qualifizierten und engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, es unterminiert auch die Qualität von Forschung und Lehre sowie die Attraktivität des Arbeitsplatzes Hochschule und Forschung. Die Zeit ist reif für mehr Dauerstellen für Daueraufgaben in Lehre, Forschung und Wissenschaftsmanagement! Die GEW fordert von Bundestag und Bundesregierung:

  • radikale Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG), die Befristungen nur bei echter wissenschaftlicher Qualifizierung wie der Promotion oder Drittmittelfinanzierung und in der Postdocphase nur mit Tenure Track erlaubt, verbindliche Mindestlaufzeiten vorgibt, die familien- und behindertenpolitische Komponente verbindlich ausgestaltet und die Tarifsperre ersatzlos streicht,
  • Streichung der sachgrundlosen Befristung aus dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG),
  • Finanzierung von Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Drittmittelgebern unter der Auflage, dass die Prinzipien guter Arbeit wie der verantwortungsbewusste Umgang mit Befristung eingehalten und eine aktive Personalentwicklung sowie Gleichstellungs- und Diversitätspolitik betrieben werden, Tarifbindung für alle Beschäftigten besteht und aus Drittmitteln und Projektgeldern auch Dauerstellen finanziert werden.

Bildung und Wissenschaft nachhaltig finanzieren

Die Finanzierung der Hochschulen hält nicht Schritt mit dem Anstieg der Studierendenzahlen und den steigenden Anforderungen an Forschung, Lehre und Studium in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Während die Grundfinanzierung stagniert oder sogar gekürzt wird, geizen Bund und Länder nicht mit Milliarden für befristete Programme und Wettbewerbe. Ein Kurswechsel in der Wissenschaftsfinanzierung ist überfällig – hin zu einer nachhaltigen, verlässlichen, dynamischen und deutlich stärkeren Grundfinanzierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen! Die GEW fordert von Bundestag und Bundesregierung:

  • Umsteuern in der Haushalts- und Finanzpolitik, damit Bund und Länder deutlich mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben,
  • Aufstockung, Verstetigung und Dynamisierung des Zukunftsvertrags Studium und Lehre stärken und 100-prozentige Verwendung der Mittel für Dauerstellen,
  • Gleichwertigkeit von Forschung und Lehre sowie Universitäten, Fachhochschulen und Dualen Hochschulen in der Hochschulfinanzierung,
  • Pflicht zur Veröffentlichung der Ergebnisse von Drittmittel- und Auftragsforschung an Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Open Access sowie zur Beteiligung an den Overheadkosten,
  • Umwandlung der Exzellenzstrategie in einen Pakt für Gute Arbeit in der Wissenschaft, der eine Entfristungsoffensive an den Hochschulen auslöst,
  • Weiterentwicklung der Qualitätsoffensive Lehrerbildung zu einem allgemeinen Förderprogramm, das in der Fläche für mehr Studienplätze, bessere Betreuungsrelationen und die Reform der Curricula sorgt
  • Wiedereinführung der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau, um den auf mindestens 50 Milliarden Euro angewachsenen Sanierungsstau aufzulösen.

„Wir wollen, dass die Wissenschaftspolitik ein Wahlkampfthema wird“, betonte der GEW-Hochschulexperte und Vizevorsitzende Andreas Keller. Den Auftakt dazu machte die Livekonferenz „Wissenschaftspolitik auf dem Prüfstand“, bei der die Gewerkschaft die Bildungs- und Hochschulexpertinnen und -experten der Bundestagsfraktionen mit ihren Forderungen konfrontierte: Rede und Antwort standen die Abgeordneten Stefan Kaufmann (CDU), Oliver Kaczmarek (SPD), Kai Gehring (Grüne) und Nicole Gohlke (Die Linke), der FDP-Politiker Jens Brandenburg hatte seine Teilnahme abgesagt.

Ergänzt wurde die Debatte auf dem Podium durch Statements von Vertreterinnen und Vertretern von Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie der stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Elke Hannacku nd des Präsidenten des Deutschen Studentenwerks, Prof. Rolf-Dieter Postlep.

Viel Einigkeit beim Thema BAföG

Besondere Aktualität bekam die Debatte um das BAföG, nachdem das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig jüngst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Ausbildungsförderung angemeldet hatte: Diese decke das Existenzminimum von Studierenden nicht ab. Mit der richterlichen Entscheidung im Rücken bekräftigten alle Abgeordneten einmütig, das BAföG reformieren zu wollen - auch Unions-Politiker Kaufmann plädierte für mehr Chancengerechtigkeit und Vielfalt.

Grundsätzlich gab es vier Monate vor der Bundestagswahl am 26. September auf dem Podium recht viel Einigkeit. „Ich wünsche mir in der nächsten Legislaturperiode mehr Gewicht für Bildungs- als für Finanzpolitiker“, kommentierte Keller entsprechend. So wollen alle Parteien nicht nur ran ans BAföG und die soziale Lage Studierender verbessern, sondern auch die Digitalisierung der Infrastruktur und Lehre an Hochschulen vorantreiben sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlässliche Karriereperspektiven bieten. Zudem räumten die Abgeordneten ein, Hochschulen und Studierende während der Coronapandemie nicht so stark im Blick gehabt zu haben wie Schulen und Kitas.

Hochschulfinanzierung bleibt strittig

Wird es irgendwann an die Umsetzung der Vorhaben gehen, werden die Differenzen vermutlich stärker sichtbar als bei der Konferenz am Freitag. So betonte Kaufmann bereits, er stehe dahinter, die BAföG-Sätze an die Lebensrealität anzupassen und zu erhöhen, möglicherweise sogar bereit zu sein, über eine Dynamisierung zu reden. „Bei der Elternunabhängigkeit sind wir aber noch auseinander, und wir haben auch ein Problem mit dem Vollzuschuss.“

Strittig bleibt auch die künftige Hochschulfinanzierung. Gehring sagte, die Drittmittelfinanzierung habe überhandgenommen, stattdessen müsse die Grundfinanzierung gestärkt werden. Gohlke kritisierte, die Hochschulen seien seit Jahrzehnten unterfinanziert, ein „Systemwechsel“ sei überfällig. Sie wünscht sich eine aktivere Rolle des Bundes, der zu lange nur „Moderator“ gewesen sei.

Kaczmarek nannte den „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ als Nachfolgeprogramm des Hochschulpaktes eine „gute Grundlage“. Kaufmann betonte indes: „Irgendwann hat auch der Bund Kapazitätsgrenzen. Wir können nicht alles an uns ziehen, was die Länder nicht hinbekommen.“  Der Hochschulbau etwa sei keine Gemeinschaftsaufgabe, sondern liege in der Zuständigkeit der Länder. Unterdessen warnte Gehring davor, in eine Debatte über eine Föderalismusreform abzugleiten.

Differenzen beim WissZeitVG

Darüber hinaus zeigten sich zwar alle Abgeordneten für eine Reform des WissZeitVG offen, umstritten war jedoch, wann und wie „radikal“ – so die Forderung Kellers – diese erfolgen könne. Während Gohlke so schnell wie möglich eine Entfristungsoffensive umsetzen will, will Kaufmann die noch laufende Evaluierung der Auswirkungen des zuletzt 2016 geänderten Gesetzes abwarten. Für die GEW ist das Thema „Dauerstellen für Daueraufgaben“ in Lehre und Forschung seit Jahren ein Kernthema: Sie fordert unter anderem die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und verbindliche Mindestlaufzeiten für Zeitverträge.

„Die GEW hat gute Argumente, jetzt müssen wir Bambule machen.“ (Andreas Keller)

Am Ende der zweistündigen Runde, in der Gehring die Forderungen der GEW eine „tolle Blaupause“ nannte, bilanzierte Keller: „Die GEW hat gute Argumente, jetzt müssen wir Bambule machen.“   

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