Sexueller Kindesmissbrauch und Schule
„Jede Schule kann Tatort sein“
Die 5. Anhörung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs nahm die Schule in den Fokus: nicht nur als Schutzraum, sondern auch als Tatort.
Zwölf Jahre ist es her, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder an der Odenwald-Schule und am Canisius-Kolleg Schockwellen durch die Republik sandte. Sollte sich jemand Illusionen gemacht haben, es habe sich um reformpädagogisch oder kirchlich fehlgeleitete Ausnahmen gehandelt, wurde er oder sie bei einer Anhörung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zum Thema Schule am 23. März eines Besseren belehrt: 160 Menschen berichteten der Kommission von sexuellen Übergriffen an staatlichen Schulen. „Im Klassenzimmer, in der Bibliothek, beim Direktor, im Krankenzimmer, in ihrem Zuhause“ seien Schülerinnen oder Schüler missbraucht worden, so die Vorsitzende Brigitte Tilmann.
Reaktion der Schule „niederschmetternd“
Es gab Fälle, in denen Lehrkräfte über 30 Jahre Kinder missbraucht hätten, darunter solche, von denen das Kollegium ganz offenbar wusste. Tom Hartmann*, einst Schüler in Wuppertal, heute Schauspieler, schilderte seinen Missbrauch, der nur einer von fünfen in der Jahrgangsstufe gewesen sei. Dort sei der Täter zunächst gebeten worden, „doch bitte nur noch in der Oberstufe zu unterrichten“. Erst Jahre später kam es demnach zu einer Suspendierung, bis heute zu keiner Aufarbeitung. Die Reaktion der Schule bezeichnete er als „niederschmetternd“. Typisch an Hartmanns Erzählung, das wurde während der ganztägigen Anhörung immer wieder bestätigt: Es sind oft besonders beliebte Pädagogen, die ihre Macht über Schülerinnen und Schüler ausnutzen.
„Die Opfer haben ein Recht darauf, dass eine Institution, in der ihre Würde zutiefst verletzt wurde, klärt, welche Strukturen dort wirksam waren.“ (Brigitte Tilmann)
Die Kommissions-Vorsitzende appellierte, sich des Themas vielschichtig zu widmen: „Jede Schule kann Tatort sein. Das muss jedem im Kollegium bewusst sein“, konstatierte Tilmann. Eine zu beobachtende Tendenz, „auf Aufarbeitung zu verzichten und direkt mit der Prävention zu beginnen“, sei nicht hilfreich. Eine Nichtaufarbeitung hätte nicht nur einen „irreparablen Verlust der Integrität der betroffenen Schule“ zur Folge. Die Opfer hätten zudem „ein Recht darauf, dass eine Institution, in der ihre Würde zutiefst verletzt wurde, klärt, welche Strukturen dort wirksam waren.“ Zugleich müsse Schule als Schutzraum gestärkt werden, der „Kraft, Anerkennung und Stabilisierung“ bieten könne. Dass nur 13 Prozent der Schulen laut der jüngsten Erhebung von 2018 ein Schutzkonzept hätten, nannte sie „blamabel“.
„Ungleiche Machtverhältnisse“ an Schulen
Für die Kultusministerkonferenz (KMK) erklärte Präsidentin Karin Prien (CDU), aktiver Kinderschutz müsse für Lehrkräfte „handlungsleitend“ sein. Dazu sollten sie befähigt werden, Gefährdungen zu erkennen – etwa durch das Fortbildungsmaterial „Was ist los mit Jaron?“, das die KMK jüngst mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vorstellte. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) lenkte den Blick auf die „ungleichen Machtverhältnisse“ an Schulen. Schülervertreter Nikolai Schmidt aus Rheinland-Pfalz nahm den Ball auf: Es brauche „weniger Machtgefälle, mehr Augenhöhe, neue Bewertungssysteme“. Nein zu sagen gegenüber Menschen, die über die Zukunft entscheiden, sei schwierig.
GEW-Vorsitzende Maike Finnern verwies auf das Berufsethos der Bildungsinternationalen. Die darin enthaltene „umfassende Anerkennung von Kinder- und Menschenrechten“ sei für alle Mitglieder der GEW bindend. Finnern bekannte sich klar zu schulischen Schutzkonzepten; allerdings brauche es für strukturelle Veränderungen immer auch Ressourcen. Für die GEW kündigte sie an, dass sich eine Kommission mit der Frage des Umgangs der Gewerkschaft mit Fällen sexuellen Missbrauchs beschäftigen werde. „Die Kommission ist beschlossen und wird aktuell installiert“, erklärte Finnern – und: „Wir stellen uns dem Thema und nehmen uns ihm an.“
*Der Name wurde von der Redaktion geändert.