GEW versus BRD
Ist das Streikrecht käuflich?
Die GEW hat sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) noch einmal für das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte stark gemacht.
Ein spannender Moment – 17 Richterinnen und Richter der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nehmen in ihren Roben Platz im großen Halbrund des Saals eben jenes Gerichtshofes in Straßburg. Das Thema der mündlichen Verhandlung: Dürfen Beamtinnen und Beamte in Deutschland streiken? Drei GEW-Lehrkräfte, stellvertretend für viele andere, gegen die ebenfalls wegen der Teilnahme an Streiks eine Disziplinarmaßnahme verhängt worden war, nehmen mit ihrer Prozessvertretung gegenüber Platz, ein paar Meter neben ihnen sitzt die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland, der Beklagten.
Obrigkeitsstaatliches Denken
Der Vortrag des Prozessvertreters der Bundesregierung, Professor Christian Walter, erlaubte tiefe Einblicke in obrigkeitsstaatliches Denken. Der Beamtenstatus sei Voraussetzung für die Sicherung des Rechts auf Bildung und für eine funktionierende Staatsverwaltung. Die materiellen Bedingungen des Beamtenstatus‘ seien so vorteilhaft, dass die Beschäftigten diesen freiwillig anstrebten.
Abenteuerliche Haltung für ein demokratisches Land!
Den Rechten der Beamten stünden Pflichten gegenüber, die gute Bezahlung und andere Vorteile des Beamtentums wie der lebenslang sichere Arbeitsplatz seien eine angemessene Kompensation für das fehlende Streikrecht, argumentierte Walter. Menschen lassen sich ihre Grundrechte abkaufen? Eine abenteuerliche Haltung für ein demokratisches Land!
Entscheidend nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist jedoch nicht, in welchem Status jemand beschäftigt ist, sondern, was er tut. Das bedeutet, dass Einschränkungen des Streikrechts nur auf gesetzlicher Grundlage bei Angehörigen der Polizei, des Militärs und der Staatsverwaltung zulässig sind. Zu dieser Gruppe gehören Lehrkräfte unstrittig nicht.
Die GEW will das Beamtenrecht modernisieren. Sie will die Position der Beamtinnen und Beamten, der Lehrerinnen und Lehrer stärken. Bis heute sind diese vom Wohlwollen der Arbeitgeber in Bund, Ländern und Kommunen abhängig. Der Dienstherr verordnet, wie lange gearbeitet werden soll. Er entscheidet über die Einkommen, die Erhöhung oder Kürzung der Bezahlung und die Arbeitsbedingungen. Allein! Ohne ein demokratisches Mitspracherecht der Beschäftigten. Aus „Fürsorge“. Das hört sich stark nach Ständestaat des 18. Jahrhunderts, nicht aber nach dem 21. Jahrhundert an. Das will die GEW ändern, ohne dass sie den Beamtenstatus als solchen in Frage stellt.
Nach der mündlichen Verhandlung wird der EGMR – voraussichtlich – in den nächsten Monaten ein schriftliches Urteil fällen. Sollte dieses im Sinne der Klägerinnen und Kläger positiv ausfallen, wird die GEW den Auftrag, das Beamtenrecht zu modernisieren und ein Streikrecht gesetzlich möglich zu machen, gegenüber der Politik einfordern. Denn: Die Bundesrepublik muss den EGMR-Entscheid nicht automatisch in deutsches Recht umsetzen! Schlimmstenfalls muss die GEW erneut durch alle Instanzen ziehen. Geht das Urteil hingegen negativ aus, ist der juristische Weg beendet.
Ulf Rödde, Redaktionsleiter „Erziehung und Wissenschaft“
Kein freies Wahlrecht des Status‘
Einer der Streiks, um die es in den Beschwerden vor dem EGMR ging, richtete sich gegen eine verordnete Pflichtstundenerhöhung. Auch aktuell wird wieder über längere Unterrichtszeiten diskutiert, um den dramatischen Lehrkräftemangel in Deutschland zu lindern. Gegen diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sollten sich Lehrkräfte wehren dürfen.
Das Gericht wollte wissen, warum die Beschwerdeführer*innen nicht einfach einen Antrag auf Wechsel vom Beamten- in das Angestelltenverhältnis gestellt hätten. Der Prozessvertreter der GEW-Kläger*innen, Rudolf Buschmann, machte deutlich, dass ein freies Wahlrecht des Status‘ im deutschen Recht nicht vorgesehen sei. Die Entscheidung zur Verbeamtung treffe stets der Dienstherr. Natürlich könnten Beamt*innen auch kündigen. Aber dann verlören sie ihren Job und einen großen Teil ihrer Altersversorgung. Einen Anspruch auf (Wieder-) Einstellung als angestellte Lehrkraft gibt es ebenso wenig wie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Kollektives Betteln
Professor Walter trug vor, die Spitzenverbände der Gewerkschaften seien in die Besoldungsgesetzgebung eingebunden, sie dürften sowohl vor der Kabinettsvorlage als auch im parlamentarischen Verfahren Stellung nehmen. Das seien quasi Kollektivverhandlungen – und außerdem gehe das sogar schneller als Tarifverhandlungen. Das Streikrecht sei zudem kein essenzielles Element des Menschenrechts auf Kollektivverhandlungen.
Diese Bewertung wies Buschmann strikt zurück und zitierte den berühmten Satz des Bundesarbeitsgerichts, dass Tarifverhandlungen ohne Streikrecht nichts anderes als kollektives Betteln seien.
Auch die GEW-Vorsitzende Maike Finnern betonte im Anschluss an die Anhörung, dass eine Gewerkschaft mehr sei als ein Lobbyverband. Es sei eben nicht das Gleiche, ob man in einem Beteiligungsverfahren als gewerkschaftlicher Spitzenverband seine Position vortragen kann oder ob man – wie es das internationale Arbeitsrecht vorsieht – in freien Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften Arbeitsbedingungen vereinbart.
Die mündliche Verhandlung vor der Großen Kammer des EGMR, die auf Englisch und Französisch stattfindet, ist am 1. März 2023 ab ca. 14:30 Uhr auf dem Webcast des EGMR im Netz zu finden.