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Interview

„Integration führt zu Konflikten“ ...

... und das ist gut so. Sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Er betont: „Es läuft viel besser als früher.“ Wo Integration gelinge, werde mehr ausgehandelt und damit auch mehr gestritten. Das bedeute aber auch mehr Teilhabe.

Aladin El-Mafaalani lehrte Politische Soziologie an der FH Münster. Heute ist er Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium. Foto: Lutz Jäkel/laif
  • E&W: Sie haben ein Buch über gelungene Integration veröffentlicht; nun heißt es, das sei ein „Gute-Laune-Buch“, das glücklich macht. Überrascht Sie das?

Aladin El-Mafaalani: Ich habe nichts dagegen, als Optimist zu gelten. Allerdings: Noch 2013 stand ich mit derselben These als Pessimist da. Damals stand unsere Regierung mit Menschen wie Angela Merkel (CDU), Philipp Rösler oder Guido Westerwelle (beide FDP) für Vielfalt; die USA hatten den ersten schwarzen Präsidenten. Mit der Erzählung, dass gelingende Integration auch zu Konflikten führt, ließ sich niemand locken. In Zeiten von AfD, Trump und Brexit und zum Teil panischer Reaktionen ist das anders. Wahr bleibt: Die Teilhabechancen von Migrantinnen und Migranten waren nie höher. Die Bildungsabschlüsse verbessern sich, ebenso die Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Das belegen alle Daten.

  • E&W: Gleichzeitig zeigen Studien, dass im Zweifel nicht „Mehmet“, sondern „Christian“ den Ausbildungsplatz oder die Wohnung bekommt. Auch der Hashtag #metwo im Sommer sprach Bände.

El-Mafaalani: Es gibt immer noch Unterschiede sowie Defizite bei der Integration. Das sehe ich. Aber ich wehre mich gegen die Behauptung, alles sei schlechter geworden. Das ist es nicht – und jeder, der an die 1970er-Jahre zurückdenkt, sieht das. Und was #metwo angeht: Dort diskutieren ja gerade die Integrierten, die sich in führende Positionen vorgearbeitet haben.

  • E&W: Insgesamt attestieren Sie der Integrationspolitik eine „Drei plus“. Da ist Luft nach oben.

El-Mafaalani: Aber es ist viel besser als die Wahrnehmung – die liegt häufig bei „Sechs“. Viele halten mich für verrückt, wenn ich sage: „Die Integration läuft besser als früher.“

  • E&W: Warum unterscheidet sich der allgemeine Eindruck von Ihrem?

El-Mafaalani: Weil nicht erkannt wird, dass mehr Teilhabe in aller Regel zu Konflikten führt: Wo Integration gelingt, wird mehr ausgehandelt und damit auch mehr gestritten. Es sitzen mehr Menschen am Tisch. Dadurch wird es nicht ruhiger.

  • E&W: Weil der Verteilungskampf härter wird?

El-Mafaalani: Das könnte man so beschreiben – wobei es nicht nur um Ressourcen geht, sondern auch um Mitbestimmung, um Deutungshoheiten. Im Grunde ist das ein Klassiker; der Philosoph Georg Simmel wusste das, ebenso der Soziologe Max Weber. Wir allerdings beschreiben nicht einmal die Konfliktlinien richtig. Die verlaufen nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.

  • E&W: Sondern?

El-Mafaalani: Zwischen jenen, die die offene Gesellschaft erhalten oder ausbauen, und denen, die sie schließen wollen. Das ist der Kernkonflikt. Und man muss unterscheiden zwischen der Öffnung nach innen und nach außen ...

  • E&W: Mit „außen“ ist Zuwanderung gemeint?

El-Mafaalani: Ja. Die Öffnung nach innen wiederum hat mit Integration zu tun, aber nicht nur der Migranten. Es geht auch um Teilhabe und Integration von Frauen, der LGBTI**-Community, von Menschen mit Beeinträchtigungen, verschiedener Hautfarbe und Religion. Die Frage, wie viele Rechte jenen zugestanden werden, die lange benachteiligt waren, zieht sich mitten durch die Gesellschaft – sogar durch die Parteien, mit Ausnahme der Grünen und der AfD. Erstere stehen für Öffnung, letztere für Schließung. Interessanterweise gewinnen nur die Parteien mit einer klaren Position an Wählerstimmen.

  • E&W: Was steht also an?

El-Mafaalani: Statt nur über jene an den Rändern zu diskutieren, wäre es gut, die politische Verunsicherung in der Mitte zu bearbeiten. Dazu muss erkannt werden, dass Konflikte ein normales Resultat von etwas sind, das politisch gewollt ist: die offene Gesellschaft. Konflikte sollten nicht nivelliert und harmonisiert werden, sondern ausgetragen. Sie sind nichts Schlimmes, sondern etwas Positives; sie können zu Fortschritt und Innovation führen. Wenn das in einem vernünftigen Diskurs gelingt, werden sich auch die Ränder beruhigen.

  • E&W: Braucht es andere Formen des Dialogs? Es wird ja kaum konstruktiv verhandelt.

El-Mafaalani: Ja, statt einer Streitkultur haben wir eher eine Anschreikultur. Insofern wären andere Prozesse wichtig. Doch auch um die kann man sich erst kümmern, wenn man das Problem verstanden hat.

  • E&W: Viele Konflikte entzünden sich an Stellen, die – tatsächlich oder vermeintlich – mit dem Islam zu tun haben.

El-Mafaalani: Global betrachtet entzünden sie sich an Minderheiten, die vor Ort von Bedeutung sind: in den USA an sogenannten Latinos, in Großbritannien, siehe Brexit, an Menschen aus Osteuropa, in Deutschland an Muslimen.

  • E&W: Nun fordern auch manche Mitglieder der muslimischen Community eine innerislamische Wertedebatte, auch eine Abkehr von einem patriarchalen Gesellschaftsverständnis.

El-Mafaalani: Bereits das macht doch deutlich, dass es „den Islam“ nicht gibt. Die sogenannte muslimische Community ist mehrfach gespalten: zwischen den Glaubensrichtungen einerseits und in ihrem Blick auf die Gesellschaft andererseits. Er reicht von sehr konservativ bis zu feministisch. In einer Ausrichtung, das ist auch richtig, sind Muslime anfällig für populistische Diskurse und machen gegen Verwestlichung mobil – ganz ähnlich übrigens, wie konservative Nichtmuslime vor Islamisierung warnen. Beides sind Positionen gegen eine offene Gesellschaft.

  • E&W: Worauf führen Sie zurück, dass die Tendenz, sich gegenüber dem Islam zu verschließen, zurzeit besonders ausgeprägt ist?

El-Mafaalani: Über muslimische Putzfrauen mit Kopftuch wurde schlicht nicht diskutiert, weil sie keinen schönen Platz am Tisch beanspruchten – anders als kopftuchtragende Richterinnen, Lehrerinnen oder Topmodels, die einflussreiche und selbstbewusste Frauen sind. Auch die Mitschülerin mit Kopftuch in meiner Grundschule war kein Thema – und zwar auch, weil die Lehrkräfte dachten: Die gehört nicht zu uns. Die gute Nachricht ist: Das ist heute anders. Die Frauen mit Kopftuch sind sozusagen am Tisch angekommen. Früher saßen sie auf dem Boden. Infolgedessen werden Diskussionen geführt, die wichtig sind: Wofür steht ein Kopftuch bei Frauen, bei Kindern?

  • E&W: Was hält eine Gesellschaft mit so vielen unterschiedlichen Menschen am Tisch zusammen?

El-Mafaalani: Die Antwort wird nicht jedem gefallen: Gerade die Konflikte verbinden uns.

  • E&W: Braucht die Gesellschaft nicht eine gemeinsame Wertebasis? Leitkultur ist ja so ein Reizwort.

El-Mafaalani: Ich habe gar nichts gegen den Begriff. Wenn man sich in einem gemeinsamen Reflexionsprozess darüber verständigt, was die Leitkultur in einer Einwanderungsgesellschaft sein soll, führt das zu Bildung im besten Wortsinn. Aber: Die beste Leitkultur ist eine Streitkultur. Und für diese muss man sich über die Form des Streits und das Streiten selbst verständigen.

Aladin El-Mafaalani: „Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“; Kiepenheuer & Witsch 2018