Peru
Innovativ, aber nur ein Pilotprojekt
75 neue, nach internationalen Standards gebaute Schulen sollen bis Ende des Jahres in Peru eingeweiht werden. Doch das Projekt komme nur 118.000 der rund sechs Millionen Schülerinnen und Schüler zugute, kritisieren Experten.
Die Schlange der Eltern vor dem modernen Schulgebäude im Stadtteil San Juan de Miraflores der Hauptstadt Lima ist beachtlich. „Wir wollen unsere Kinder an dieser Schule anmelden. Sie ist neu, besser als so viele andere“, erklärt ein Familienvater. „Mariscal Ramón Castilla“ heißt die Schule, die erst Anfang September vergangenen Jahres eingeweiht wurde. Als eine von insgesamt 75 „Escuelas Bicentenarias“ („200-jährige Schulen“). Der ungewöhnliche Titel für die geplanten Bildungseinrichtungen geht auf den 200. Unabhängigkeitstag Perus 2021 zurück.
Zur Schuleinweihung kam sogar Interims-Präsidentin Dina Boluarte mit Bildungsminister Morgan Quero in das Stadtviertel, das auf der Grenze zwischen dem wohlhabenden und dem armen Teil Limas liegt. Davon zeugt die Metalltafel, die im Eingangsbereich der Schule montiert ist – gegenüber eines dreistöckigen Gebäudes mit Dachterrasse und Sonnensegel. Auch die farbigen Kunststoffelemente, die gegen das mitunter gleißende Sonnenlicht schützen sollen, trügen zum freundlichen Ambiente der für rund 1.400 Schülerinnen und Schüler konzipierten Bildungseinrichtung bei, freut sich Yolanda Flores.
Sie ist Vize-Rektorin an der „Mariscal Ramón Castilla“ und heute damit beschäftigt, Eltern entweder Hoffnung auf einen Platz an der Schule zu machen oder sie gleich an andere Einrichtungen zu verweisen. „Das Interesse ist riesig, denn moderne, gut ausgestattete Schulen sind selbst in Lima knapp. Ich persönlich weiß es zu schätzen, hier zu arbeiten“, erklärt die Frau von Mitte 40.
Ausstattung und Methodik mit internationalem Standard
Das liegt nicht nur an der modernen, an das lokale Klima angepassten Architektur, sondern auch an der Ausstattung der Klassenräume, der Aula und des Schulhofs. Das bestätigt auch Grundschullehrerin Thalia Huamani, die Erstklässler unterrichtet und dafür auch auf Laptop, Bildschirm und eine moderne Tafel zurückgreifen kann. „Wir haben hier flexible Klassenräume, können in großen und kleinen Gruppen arbeiten. Es gibt auch einen Bio-Schulgarten. Solche Bedingungen habe ich noch nie erlebt“, lobt die Frau von Anfang 30, die seit 2019 unterrichtet. „Unsere Bildungsinfrastruktur braucht mehr als eine Auffrischung“, sagt sie und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch.
Aus dieser Perspektive sind die 75 „Escuelas Bicentenarias“ so etwas wie ein Start in eine bildungspolitische Zukunft. In Kooperation mit Bildungsexperten aus Großbritannien und Finnland konzipiert, hätten sich die Verantwortlichen im Bildungsministerium für das Pilotprojekt entschieden, erklärt Architekt Jonathan Warthon, der in die Umsetzung involviert ist. 118.000 Schülerinnen und Schüler sowie 5.100 Lehrkräfte werden in den 75 Schulen inklusiver, qualitativ besser und zukunftsorientierter lernen und unterrichten. Für Peru ist das Pilotprojekt eine kleine bildungspolitische Revolution, für die rund 4,25 Milliarden Soles, umgerechnet rund 1,1 Milliarden Euro, in die Hand genommen werden.
„Wir müssen mehr tun. Das Stadt-Land-Gefälle in Peru ist gravierend.“ (Thalia Huamani)
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. „Das Schulprojekt ist auch der Versuch, schneller, effektiver und nachhaltiger zu bauen, den Stau bei Schul-Bauprojekten abzubauen, neue Wege zu gehen“, erklärt Architekt Warthon. Bisher war er bei der Einweihung von drei Projektschulen mit von der Partie. Bis zum Ende des Jahres sollen alle 75 „Escuelas Bicentenarias“ an die Kollegien übergeben werden, und bisher sieht es so aus, als ob die Vorgaben auch eingehalten werden können.
Das ist ein kleiner Erfolg für das im lateinamerikanischen Bildungsranking weit hinten rangierende Peru. Bei den letzten im Dezember 2023 veröffentlichen PISA-Ergebnissen fielen die peruanischen Schülerinnen und Schüler mit Schwächen in Mathe auf, aber auch bei Lese- und wissenschaftlichen Leistungen lagen sie deutlich unter dem Niveau der Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Das hat leider Tradition, und genau deshalb haben neue Bildungskonzepte und Methoden für Grundschullehrerin Huamani Signalcharakter. „Wir müssen mehr tun“, so die engagierte Pädagogin. „Das Stadt-Land-Gefälle in Peru ist gravierend“, und Kinder aus armen Verhältnissen hätten es auch in Lima schwer, erklärt sie und deutet mit dem Daumen auf die Wand hinter sich.
„Der Bildungsetat Perus liegt chronisch unterhalb der 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Fachleute empfehlen. Zudem ist die Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen alles andere als zeitgemäß.“ (Salomón Lerner)
In diese Richtung liegt Villa María del Triunfo, eines der beiden Armenviertel, die an San Juan de Miraflores anschließen. Das macht sich auch im Unterricht bemerkbar, schließlich findet sich an der Schule „Mariscal Ramón Castilla“ ein Querschnitt der Kinder und Jugendlichen aus den umliegenden Stadtvierteln. Flexible Klassenräume, moderne computergestützte Tafeln, Laptops, Tablets für die Kinder, aber auch die Option, mit einer Kollegin den Unterricht gemeinsam zu gestalten, sind neue Möglichkeiten.
„Dafür müssen wir auch nachsitzen, in Methodik dazulernen, uns digital alphabetisieren und besser werden.“ Da hake es, gibt Vize-Rektorin Flores offen zu, die hin und wieder ältere Kolleginnen und Kollegen motivieren muss, ihren Unterricht an das Jahr 2025 anzupassen.
Das ist für Experten wie Salomón Lerner, ehemaliger Rektor der renommierten päpstlichen katholischen Universität von Lima, nur eines der Grundprobleme. „Der Bildungsetat Perus liegt chronisch unterhalb der 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Fachleute empfehlen. Zudem ist die Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen alles andere als zeitgemäß“, moniert Lerner. Dafür macht er die Politik verantwortlich, die Qualitätsstandards an den Universitäten nach unten geschraubt hat. Davon ist auch die Ausbildung der Lehrkräfte nicht verschont geblieben, und im Bildungssektor fehlen latent die Mittel.
Schulen ohne Wasser und ohne Internet
Es werde viel zu wenig in die Infrastruktur investiert, kritisiert auch Carlos Herz. Er hat lange in Cusco, einer Stadt in den Anden, gearbeitet, eine kirchliche Bildungseinrichtung geleitet und kennt die Situation in der andinen Region besonders gut. „Schulen ohne Wasseranschluss, ohne Internet, mit baulichen Mängeln sind dort nicht die Ausnahme, sondern die Regel“, sagt Herz. Studien, nach denen von 55.923 öffentlichen Bildungseinrichtungen im Land nur 4.087 ohne bauliche Defizite sind, unterstreichen das. Schlimmer noch, die Wirtschaftsvereinigung ComexPerú warnte im Juni 2024 vor dem Kollaps von rund 55 Prozent der Einrichtungen.
Aus dieser Perspektive seien die 75 „Escuelas Bicentenarias“ nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“, so Lerner. Er wirft dem Bildungsministerium vor, kein Konzept für die kommenden Jahre zu haben, der Politik, die notwendigen Mittel nicht bereitzustellen. „Aus meiner Perspektive sind die 75 Schulen ein Pilotprojekt, das von den Defiziten und Versäumnissen der vergangenen Dekaden ablenkt. Echte Reformen sind nicht in Sicht“, kritisiert er. Eine Einschätzung, die nicht nur in Lima viele teilen.