Klemm weist in seinem einführenden Überblick vor allem auf die zentralen Probleme in den Ländern hin, die es erschweren, Inklusion in den Bildungsstätten zu realisieren. Fest steht: Es gibt noch sehr viel zu tun, wie der GEW-Kommentar auf Seite 24 deutlich macht. Weitere Kommentare der Vorstandsmitglieder der Bildungsgewerkschaft folgen im Laufe der Serie.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der Hilfs-, Sonder- bzw. Förderschulen nach 1945 zeigt: Die ersten 50 Jahre waren durch eine Expansion der Schulen und ihrer Besuchsquoten gekennzeichnet: 1950 gingen in der „alten“ Bundesrepublik 1,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Hilfs- bzw. Sonderschulen, 1989 galt dies für 4,1 Prozent. Auch in der DDR sind in dieser Zeitspanne die Schülerzahlen vergleichbar gestiegen. Dieser Prozess, der auf dem Gedanken basierte, „behinderte“ Schülerinnen und Schüler könnten in eigens für sie eingerichteten Schulen am besten gefördert werden, hat sich bis heute fortgesetzt: Als Deutschland 2009 der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ beitrat, besuchten fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler Förderschulen (ohne die 1,2 Prozent, die damals schon in allgemeinen Schulen „integrativ“ unterrichtet wurden).
Die expansive Entwicklung beruhte auf der Annahme, Kinder auszusondern sei die beste Voraussetzung zur Hilfe. Schon früh kristallisierten sich auch andere Positionen heraus. Die 1973 veröffentlichte Empfehlung des Deutschen Bildungsrates „Zur pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher“ zielte darauf ab, diesen Schülerinnen und Schülern „abgestuft in den normalen Einrichtungen einen Platz einzuräumen“. Die Idee gewann in den folgenden Jahren zusehends Anhänger. 1994 hieß es dann in einem Text der Kultusministerkonferenz (KMK): „Die Bildung behinderter junger Menschen ist verstärkt als gemeinsame Aufgabe für grundsätzlich alle Schulen anzustreben.“ Aus diesem noch sehr vagen Ziel macht erst die UN-Konvention ein verbindliches. Mit ihrer Ratifizierung erhielten die Vorschriften der Konvention den Rang eines Bundesgesetzes, an das die Länder ihre Schulgesetze anpassen müssen. Dies gilt auch für die in Artikel 24 der Konvention verankerte Vorgabe, „Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderungen vom unentgeltlichen und obligatorischen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen“ auszuschließen.
Neuer Königsweg
Damit hat die UN-Konvention die Umkehr eines langjährigen Trends eingeleitet: Nicht mehr im Ausbau sonderpädagogischer Schulangebote, sondern im Einbezug aller Kinder und Jugendlichen wird nunmehr der Königsweg der Schulentwicklung gesehen. Von 2009/10 bis 2011/12 ist die Exklusionsquote, die angibt, wieviel Prozent der Schülerinnen und Schüler der Primar- und der Sekundarstufe I Förderschulen besuchen, von fünf Prozent auf 4,8 gesunken. Gleichzeitig ist die Inklusionsquote von 1,2 auf 1,6 Prozent gestiegen. In der Summe bedeutet das, dass sich die Förderquote, die den Anteil der Förderungsbedürftigen unabhängig vom Förderort beschreibt, von 6,2 Prozent (2009/10) auf 6,4 Prozent (2011/12) erhöht hat.
Ein Blick in die Bundesländer macht auf länderspezifische Unterschiede aufmerksam. Besonders nachdenklich müssen die großen Unterschiede der Förderquoten stimmen: 2011/12 wurden in Mecklenburg-Vorpommern 10,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler als förderungsbedürftig eingestuft, in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen jedoch nur 4,9 Prozent. Eine derartige Spannbreite ist kaum geeignet, das Zutrauen in die diagnostischen Verfahren zu stärken. Auch beim Tempo der Entwicklung des Ausbaus inklusiver Schulen unterscheiden sich die Länder deutlich: In Bremen und Schleswig-Holstein werden inzwischen 55 Prozent bzw. 54 Prozent der Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv unterrichtet, in Hessen nur elf Prozent.
Zentrale Probleme
Abgesehen von dem Gefälle bei Förderquoten und Tempo des Umbaus haben alle Bundesländer ähnliche Probleme auf ihrem Weg hin zu einer inklusiven Schule. Die zentralen Punkte:
Die Bildungswege der Kinder und Jugendlichen sind deutschlandweit durch biografische Brüche geprägt: Im Elementarbereich besuchen 71 Prozent der Kinder mit einem besonderen Förderbedarf Kindertageseinrichtungen. In der Grundschule gilt dies nur noch für 39 Prozent. Dadurch erfährt ein Teil der im Elementarbereich inklusiv Betreuten beim Übergang in die Schule, nicht zur großen Mehrheit aller Kinder zu gehören. Mädchen und Jungen, denen diese Erfahrung in inklusiven Grundschulen erspart bleibt, wird beim Schritt in die weiterführenden Schulen deutlich, dass lediglich eine geringe Zahl von ihnen zu den Schülerinnen und Schülern gehört, die dort inklusiv unterrichtet werden: 22 Prozent.
Überall in Deutschland sehen sich Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die nach der Grundschule weiterhin inklusiven Unterricht haben, mit dem gegliederten Sekundarschulwesen konfrontiert. Inklusiver Unterricht findet hierzulande nach der Grundschule in einer selektiv angelegten Schulstruktur statt: Von den 22 Prozent der derzeit in der Sekundarstufe inklusiv unterrichteten Schülerinnen und Schülern besuchen 90 Prozent Hauptschulen, Schulen mit mehreren Bildungsgängen oder Gesamtschulen, nur sechs Prozent Gymnasien und vier Prozent Realschulen. Fakt ist: In den weiterführenden Schulen findet Inklusion deutschlandweit in der Exklusion statt.
Die Ressourcenverteilung ist in der Regel an die Zahl der Kinder und Jugendlichen, bei denen man einen sonderpädagogischen Förderbedarf festgestellt hat, gekoppelt. Dies bietet den allgemeinen Schulen einen Anreiz, bei möglichst vielen Schülerinnen und Schülern Förderbedarf zu diagnostizieren. So will man die für die Schule verfügbaren Lehrerstellen ausweiten. Aus Sicht der einzelnen Schule ist das nachzuvollziehen, für betroffene Schülerinnen und Schüler führt es jedoch zu einer „Etikettierung“ als Förderschüler, die sie ihre weitere Schullaufbahn begleitet. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“.
Alle Länder haben – unabhängig vom Ausbaustand der inklusiven Schule – große Probleme, Bildungsausgaben an die Herausforderungen anzupassen, die auf dem Weg zur Inklusion notwendig sind: Bei Lehrkräften wird überwiegend davon ausgegangen, dass die inklusiven Bildungsstätten mehr Stellen für Lehrerinnen und Lehrer erfordern – auch wenn Uneinigkeit mit Blick auf die Höhe des zusätzlichen Lehrerbedarfs herrscht. Das Spektrum der Forderungen reicht bis hin zu kleineren Klassen und gleichzeitiger durchgängiger „Doppelbesetzung“, also durchgehender Präsenz von zwei Lehrkräften. Neben den Mehrausgaben der Länder für Pädagogenstellen müssen die Schulträger zusätzliche Mittel in den Schulbau investieren: Viele Schulgebäude müssen „aufrüsten“, damit Inklusion erfolgreich realisiert werden kann. Manches lässt sich durch „Umrüstung“ jener Räume realisieren, die durch den Rückgang der Schülerzahlen frei geworden sind oder noch werden. Dort, wo das nicht ausreicht, sind Erweiterungsbauten nötig. Die den Schulträgern entstehenden Mehrkosten verringern sich durch den Abbau von Förderschulen. Deren Gebäude können für andere Schulen genutzt oder aufgegeben werden, so dass die Ausgaben für den Unterhalt entfallen. Mit Sicherheit werden die kürzeren Schulwege zu allgemeinen Schulen Kosten senken. Eine belastbare Bilanz erwartbarer Mehr- und Minderausgaben steht allerdings noch aus.
Inklusion: Ein Zwischenbericht von unterwegs
Mit Klaus Klemms „Zwischenbericht“ zum Stand der Inklusion startet E&W die neue Serie „Inklusion in den Ländern“. Die Redaktion fragt nach dem Stand der Umsetzung, personellen und materiellen Ressourcen, Problemen und Frustrationen, Gelungenem und weniger Gelungenem.