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Inklusion: Die Crux von München

Mit der Länderserie zur Inklusion schaut E&W jetzt nach Bayern. Der Freistaat hat 2009 im großen Einvernehmen politisch Pflöcke eingeschlagen – doch die Umsetzung an den Schulen hinkt den Zielen hinterher.

Die Grundschule am Hedernfeld in München-Hadern ist ein lebenslustiger Ort: Auf dem Hof kündet ein weiß-blauer Maibaum von der Freude am Feiern, vor der Eingangstür hockt eine lebensgroße Messing-Giraffe eines Künstlers – das Schulmaskottchen „Hedi“. Neugierig, freundlich und gelassen sieht das gescheckte Tier aus und passt gut zur inneren Haltung dieser bunten, vielfältigen Schule. Sie ist ein Vorzeigebeispiel unter jenen bayerischen Regelschulen mit dem besonderen Profil „Inklusion“, an denen das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf gelebt wird.

Die rund 250 Mädchen und Jungen haben es gut an der dreizügigen Grundschule. In Zimmer 2.06 ist in den frühen Nachmittagsstunden Lernzeit, die Tür steht offen, etwa 20 Kinder zeichnen geometrische Figuren oder knobeln an Wortspiel-Aufgaben. Nur vorne in der ersten Reihe tanzt ein Junge mit großer, dunkler Brille etwas aus der Reihe. Lange steht er verträumt neben seinem Tisch, guckt in der Klasse herum, flüstert mal mit der Lehrerin oder anderen Schülern. Für seine Lösungen braucht er länger als andere. Er ist eins von drei Inklusionskindern in der Klasse, er hat ADHS, doch er gehört dazu. „Die I-Kinder schwimmen gut mit“, sagt Lehrerin Daniela Breitenberger. Dank engagierter Förderung bewältigen sie ihre Aufgaben gut.

Bayerns mittlerweile 164 Schulen mit dem Profil Inklusion erhalten vom Freistaat spezielle Unterstützung: Am Hedernfeld stehen je 13 Stunden von Sonderpädagoginnen für die ersten und zweiten sowie für die dritten und vierten Klassen zur Verfügung, zudem kommt eine Förderlehrerin und für manche Inklusionskinder auch ein Schulbegleiter ins Haus. Die Schule organisiert sich ehrenamtliche Lesepaten und bietet Studierenden Praktika an. Dank der zusätzlichen Ressourcen können die Lehrkräfte auch mal Unterricht zusammenlegen oder Klassen stundenweise aufteilen, um besser auf jedes einzelne Kind eingehen zu können. Zudem gibt es unterschiedliche Wochenpläne, die in Art und Anspruch dem Lerntempo der Kinder angepasst sind.

Großer Organisationsaufwand

Doch gerade diese Vielfalt der Förderung muss mit großem Aufwand organisiert werden. „Man bekommt zwar viel Hilfe und hat Freiheiten in der Unterrichtsgestaltung. Aber das Koordinieren bindet unheimlich viel Kraft und Zeit“, sagt Schulleiterin Gabriele Strehle. „Viel leichter wäre es, wenn immer ein zweiter Pädagoge mit in der Klasse wäre. Aber vom Freistaat bekommen wir die Unterstützung in dem Ausmaß, wie wir sie wirklich bräuchten, leider noch nicht.“ Bayerns Grundschullehrkräfte müssen 28 Wochenstunden unterrichten, eine Ermäßigung für die Inklusion gibt es nicht. „Wir gehen an den Rand unserer Kräfte, aber haben nicht einmal freie Stunden für Besprechungszeiten“, kritisiert Strehle. Alles, was die Lehrkräfte zusätzlich leisten, machen sie in ihrer Freizeit. „Meine Kolleginnen haben alle ein Hobby: unsere Schule“, sagt die Rektorin etwas sarkastisch. Unter diesen Bedingungen könne sie das Inklusionsmodell gar nicht allen Schulen empfehlen. Dies habe sie auch schon in Landtagsanhörungen erklärt.

„Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Umgang miteinander: Sie brauchen ein Team, das an einem Strang zieht“, sagt Strehle. Eigentlich sei es ein Unding, dass für die Inklusion keine kleineren Klassen gebildet werden dürfen, bei Kindern mit Migrationshintergrund aber schon, ergänzt Monika Ring. Die Lehrerin hat sich dennoch vor ein paar Jahren bewusst für die Schule entschieden, weil sie das kollegiale, offene und kreative Klima wie auch das Engagement ihrer Leiterin schätzt. Derzeit unterrichtet sie eine 2. Klasse mit 18 Kindern, jedes Dritte hat einen besonderen Förderbedarf: Lernschwächen, Sprachverständnisprobleme, Seheinschränkungen, ADHS. „Im Grunde sind alle Kinder verschieden, nur manche ganz besonders“, lautet ihr Credo. Oft ist die Grundschullehrerin ebenso wie ihre Kolleginnen bis abends um 18 oder 19 Uhr in der Schule, um den Unterrichtsalltag zu organisieren. „Die Arbeit im Team macht großen Spaß – aber wir müssen auch aufeinander achten, damit sich keiner übernimmt“, sagt Monika Ring.

Arbeitsgruppe aller Fraktionen

Der Freistaat könnte in Sachen Inklusion noch deutlich weiter sein, als er ist: Das politische Bayern beschäftigt sich schon seit 2009 mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Damals bildete sich im Landtag eine Arbeitsgruppe aller Fraktionen zur Inklusion. Auf deren Initiative hin wurde 2011 einstimmig die Änderung des Schulgesetzes beschlossen und damit „Gemeinsamer Unterricht“ in verschiedenen Formen ermöglicht. Seither werden jährlich jeweils 100 Planstellen zusätzlich für Inklusion bereitgestellt – inzwischen sind es 400. Auch für 2015/2016 sind laut Kultusministerium weitere 100 Stellen eingeplant.

Jährlich bauen rund 40 Schulen neu auf das Profil Inklusion. An den nunmehr 164 Standorten unterrichten Regelschullehrkräfte gemeinsam mit Sonderpädagogen. Die Profil-Schulen sind dabei nur eines von mehreren Elementen der bayerischen Inklusionsstrategie, die eine Vielfalt der Wege vorsieht. Zum Konzept gehören auch Kooperations- und Partnerklassen, die Integration einzelner Kinder an Regelschulen sowie der Fortbestand der Förderschulen als Kompetenzzentren. Daneben bringen Modellversuche etwa zu inklusiver beruflicher Bildung neue Erkenntnisse. Inklusion ist heute verpflichtender Lern- und Prüfungsinhalt für Studierende aller Lehrämter, in der Fortbildung sind schwerpunktmäßig Themen wie „Umgang mit Heterogenität“ und „Sensibilisierung für den Umgang mit Menschen mit Behinderung“ verankert.

Die Grundschule am Hedernfeld ist dabei eher Lehrmeisterin als Lernende. Sie hat schon 2005 begonnen, Kinder mit Förderbedarf zu integrieren. Heute ist jedes fünfte Kind ein Inklusionsschüler. „Mich hat schon immer gestört, dass Kinder mit Besonderheiten an andere Schulen gehen mussten“, sagt Rektorin Strehle. Dennoch muss sie Inklusionsschülerinnen und -schüler vor der Aufnahme sorgfältig auswählen, um niemanden zu überfordern. „Manche Kinder können wir auch in deren Interesse nicht aufnehmen. Wir sind im übertragenen Sinne Allgemeinmediziner – und keine Spezialisten.“