E&W: Herr Muñoz, was fällt Ihnen ein, wenn Sie „deutsches Bildungssystem“ hören?
Vernor Muñoz: Der erste Gedanke ist der einer großen Herausforderung und Veränderung, die ganz langsam eingeleitet worden ist, ganz vorsichtig und etwas schüchtern, die sich aber beschleunigen wird.
E&W: Konkret, welche Veränderungen sind das, auch mit Blick auf den internationalen Vergleich?
Muñoz: Die Hauptherausforderung ist, ein inklusives Schulwesen zu schaffen. Damit meine ich nicht nur ein System, das auch allen behinderten Kindern und Jugendlichen offensteht, sondern eines, das zudem Migranten stärker fördert. Diese haben bisher in Deutschland große Schwierigkeiten, ihre Chancen wahrzunehmen.
E&W: Deutschland hat die Reformpädagogik erfunden, dennoch hinken wir im internationalen Vergleich hinterher. Wie erklärt sich das?
Muñoz: Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Deutsche, die in sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen leben, sind bisher im Bildungssystem nicht so gefördert worden, wie es hätte sein sollen. Die Antworten, die das deutsche Schulsystem auf die Bedürfnisse dieser Gruppe gefunden hat, waren nicht richtig und angemessen. Die demografische Zusammensetzung in Deutschland wird sich in den nächsten 30 Jahren grundlegend verändern. Wenn man die Bevölkerungsgruppen, die bisher benachteiligt waren, nicht einbezieht und fördert, wenn man ihnen nicht die Chancen gibt, die sie verdienen und brauchen, könnte das in der Zukunft zu ernsthaften Problemen führen. Die Bildungsreform sollte sich nicht nur auf technische und pädagogische Aspekte konzentrieren, sondern auch auf den rechtlichen Anspruch, dass alle die gleichen Chancen erhalten.
E&W: Was bedeutet das für die Struktur?
Muñoz: In Deutschland gibt es eine Spaltung in der Bevölkerung. Die Kinder und Jugendlichen werden aufgeteilt und klassifiziert – und das zu einem frühen Zeitpunkt im Alter von zehn Jahren. Diese Auslese nehmen häufig Lehrkräfte vor, die nicht immer in der Lage sind, die Situation richtig einzuschätzen. Das deutsche Schulwesen basiert auf einem System, das eher teilt als zusammenführt, es spaltet die Gesellschaft. Die Grundschulstudie IGLU hat z. B. nachgewiesen, dass über 40 Prozent der Klassifizierung der Kinder nicht „richtig“ war, dass die Schüler „falsch“ zugewiesen worden sind. Auf meiner offiziellen UN-Mission nach Deutschland 2006 habe ich ja bereits festgestellt, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Hauptschulen über- und in Gymnasien unterrepräsentiert sind. Das zeigt, dass sie nicht die gleichen Bildungschancen haben wie deutsche Kinder.
E&W: Wir reden ständig von Globalisierung und übernehmen, was die Wirtschaft angeht, manches von anderen Ländern. Warum tut sich Deutschland so schwer, von anderen Staaten in Sachen Bildung zu lernen?
Muñoz: Das Bildungswesen in Deutschland hat eine sehr alte, sehr feste Struktur, die bis heute die Ständeordnung des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Es ist sehr schwierig, diese Strukturen aufzubrechen und zu verändern. Dazu kommt, dass das Bildungssystem bestimmte Privilegien beinhaltet. Soviel ich weiß, gibt es keinen führenden Politiker, der Abgänger einer Hauptschule ist. Die meisten Politiker in Deutschland sind wohl Gymnasiasten gewesen. (Literaturhinweise s. Marginalspalte)
E&W: Kommen wir zur inklusiven Schule. Welche Vorteile hat sie? Wir haben doch gute Förderschulen?
Muñoz: Ein inklusives Schulsystem hat Vorteile für alle Beteiligten. Man lernt Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde. Dies gilt für die behinderten und nichtbehinderten Kinder. In einem Bildungssystem wie in Deutschland, in dem die Schule Auslese- und Zuteilungsfunktion hat, kann keine Gleichheit bestehen – aus Prinzip. Es ist pädagogisch richtig, allen das Recht zu geben, lange gemeinsam zu lernen – und in den Städten zusammenzuleben: Einheimische, Migranten, Anhänger verschiedener Religionen, Arme und Reiche, Behinderte. So sollte es auch in den Schulen sein.
E&W: Gemeinsam lernen. Wie lange?
Muñoz: Für die gesamte Schullaufbahn.
E&W: Die Vereinten Nationen haben vor einem Jahr die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Welche Beobachtungen machen Sie bei der Umsetzung?
Muñoz: Die inklusive Bildung hinterfragt die historische Struktur im deutschen Schulwesen. Deshalb ist es nicht so einfach, Veränderungen umzusetzen. Ich spreche immer wieder mit Lehrkräften, die an dieser pädagogischen Revolution interessiert sind, aber nicht wissen, wo sie beginnen sollen. In den Entwicklungsländern sind die Klassen häufig sehr viel größer als in Europa: 40 Schüler und mehr. Wenn man dort den Lehrkräften sagen würde, ihr seid verpflichtet, drei Kinder mit Down-Syndrom und zwei psychisch Behinderte aufzunehmen, könnten sie damit nicht umgehen. Sie wären völlig schockiert und de facto nicht darauf vorbereitet. Was mir aber sehr interessant und bewegend erscheint: Lehrkräfte, die mit einer solchen Situation konfrontiert sind, lösen diese in ihrer täglichen Schularbeit auch irgendwie. Es kommt ja auch hier vor, dass Lehrkräfte Schüler in ihre Klasse bekommen, die etwa die deutsche Sprache nicht beherrschen. Damit müssen sie dann auch umgehen. Freilich – auf das Engagement und den guten Willen der Lehrkräfte dürfen wir alleine nicht setzen. Es muss eine Politik, einen öffentlichen Willen geben und Pläne auf nationaler Ebene, die sich für Inklusion einsetzen. Natürlich braucht man dafür auch finanzielle Mittel.
E&W: Wie hilfreich ist da das föderale System mit 16 Bundesländern?
Muñoz: Deutschland ist nicht der einzige Staat, der über ein sehr kompliziertes Bildungswesen verfügt. Es gibt andere Länder, in denen es noch schwieriger ist. In der Bundesrepublik hat die Verwaltung des Schulwesens in der Vergangenheit ganz gut funktioniert. Trotzdem müsste die Bundesregierung bzw. der Bund etwas direkter eingreifen, um die Chancengleichheit im Bildungswesen voranzutreiben.
E&W: Welche Empfehlungen würden Sie der deutschen Politik geben?
Muñoz: Zuerst müssten Gesetze her, die für die Umsetzung der Konvention der Rechte behinderter Menschen sorgen. Man braucht eine Politik, die Übergangspläne erarbeitet, weg von einem System der Sonder- hin zu einem inklusiver Schulen. Natürlich sind auch die finanziellen Mittel für die Umsetzung notwendig. Zudem müssen die Eltern der behinderten Kinder und die Schüler größere Teilhabe erhalten. Sie sind einzubeziehen, wenn neue Methoden des Lernens und des gegenseitigen Miteinanders entwickelt werden. Sie brauchen eine neue und gerechtere Form der Bildung.