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Lehrkräftemangel

Individuelle Förderung? Fehlanzeige

Auch wenn das Kultusministerium das anders sieht: Der Fachkräftemangel hat auch Bayern längst erreicht. Und damit ein Bundesland, in dem viele bildungspolitische Reformen noch kaum angekommen sind.

Das berufliche Schulzentrum am Elisabethplatz: in den Ausbildungsräumen der Fachrichtung Fahrzeugtechnik. Foto: Falk Heller

Noch vor zwei Jahren stand Saskia Krämer acht Stunden in der Woche in einer Münchner Gymnasialklasse; im Deutsch-, Sozialkunde und Geschichtsunterricht. Eine Stelle am Gymnasium fand sie nach ihrem Referendariat nicht. Stattdessen arbeitete sie sich an einer Schule ein, an der 2.000 Jugendliche und junge Männer und Frauen im Blockunterricht den schulischen Teil ihrer Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker oder Eisenbahner absolvieren: an der Städtischen Berufsschule für Kraftfahrzeugtechnik am Elisabethplatz. Hier, in München-Schwabing, unterrichtet Krämer neben Geschichte zwar die gleichen Fächer wie im Referendariat – aber in einer völlig anderen Schulform, mit ganz anderen Inhalten und auf anderem Niveau.

Wurde sie darauf vorbereitet? Nun ja, sagt sie, und man hält das zunächst für einen Scherz, zum Glück hätten die neuen Schülerinnen und Schüler an der Berufsschule eine Einführungswoche: „So musste ich die ersten Tage nicht allein vor der Klasse stehen.“ Nach dieser Woche nahm sie den Unterricht auf, mit vollem Deputat, 24 Stunden in der Woche. Was es pädagogisch, didaktisch und fachlich braucht, eignete sie sich notgedrungen in der Praxis an. Und? „Der Deutschunterricht hier ist ein ganz anderer, weil mehr Jugendliche Förderung benötigen. Auch in Sozialkunde stehen ganz andere Themen auf dem Programm. Arbeitnehmerrechte spielen etwa eine große Rolle: Es gibt Azubis, die werden schon im ersten Lehrjahr ausgebeutet.“

Es ist eine bunte Truppe, die Schulleiter Josef Lammers, selbst Berufsschullehrer par excellence – gelernter Schlosser sowie Lehrer für Metalltechnik und Mathe – für den Besuch der E&W zusammengetrommelt hat: Außer Krämer sitzen ein promovierter Elektrotechniker und ein Kfz-Meister im Raum. Andreas Spring, der Ingenieur, der die Arbeit in der Industrie wegen der permanenten Überlastung fürchterlich fand, bewarb sich auf eine Anzeige des Kultusministeriums und kam, wie er sagt, „mit Kusshand sofort ins Referendariat“. Kfz-Meister Felix Huber hat vor wenigen Wochen als sogenannter „Fachlehreranwärter“ begonnen; das Schuljahr 2019/20 wird er am Staatsinstitut für Fachlehrerausbildung in Ansbach verbringen. Bis dahin unterrichtet er zunächst befristet – vor dem Hintergrund, dass auch sein Meistertitel zur Ausbildung berechtigt.

„Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Immer wieder fällt Unterricht aus, wir müssen uns Fragen stellen wie: Verzichten wir auf Deutsch, Sport oder Sozialkunde?“  (Josef Lammers)

Der Besuch in der Berufsschule für Kraftfahrzeugtechnik macht deutlich: Der bundesweit eklatante Mangel vor allem in technischen Berufsschulfächern hat auch Bayern und den Fachkräftemagneten München mit Wucht erreicht. Das steht in deutlichem Gegensatz dazu, dass Schulminister Bernd Sibler (CSU), der im November von Michael Piazolo (Freie Wähler) abgelöst wurde, auch zum diesjährigen Schuljahresbeginn wieder vor der Presse verkündete: „Das Thema Lehrermangel können wir in Bayern nicht teilen.“

Berufsschulleiter Lammers kann darüber nur den Kopf schütteln. „Der Arbeitsmarkt ist leergefegt“, erklärt er, „immer wieder fällt Unterricht aus, wir müssen uns Fragen stellen wie: Verzichten wir auf Deutsch, Sport oder Sozialkunde?“ Insofern sei es sogar gut, dass mit Krämer jetzt eine Lehrerin an Bord ist, die ihr Augenmerk ausschließlich auf Fächer legt, die für die Schüler wie für die Zivilgesellschaft wichtig sind, aber an einer technisch orientierten Schule schnell hinten runterfallen. Gut wäre allerdings mehr Zeit für die Begleitung der neuen Kolleginnen und Kollegen, ergänzt Lehrerin Monika Brand: „Was am Gymnasium bereits als raues Klima gelten mag, ist hier vielleicht die friedlichste Stunde der Woche. Und so mancher wünscht sich mehr Zeit zur Einarbeitung.“

Schulleiter Lammers treibt noch etwas anderes um: Eine Kollegin wie Krämer wird von staatlicher Seite nur so lange wertgeschätzt, bis ein „echter“ Berufsschullehrer zur Verfügung steht. Und egal, wie unwahrscheinlich das ist – schon jede vierte der 80 Lehrkräfte an seiner Schule ist entweder für eine andere Schulform ausgebildet oder quer eingestiegen: Die Deutsch- und Sozialkundelehrerin ist nun schon zum zweiten Mal nur für das laufende Schuljahr angestellt. So entstehe ein Flickenteppich von Beschäftigungsverhältnissen: „von Beamten über Angestellte – bis hin zu prekär Beschäftigten.“

Da für eine volle Unterrichtsversorgung immer noch Personal fehlt, finden an der Schule zudem längst nicht alle vorgesehenen Teilungsstunden statt. „Für die praktischen Übungen ist das unglücklich“, erklärt Spring, „für 30 Schüler sind die Räume zu klein und die Messgeräte zu wenige.“ Und wie zum Beweis steht er beim anschließenden Rundgang durch die Schule plötzlich einer Schülergruppe gegenüber, die nicht weiß, wo sie hin soll: Es ist zwar Teilungsstunde, aber der einzige für sie zur Verfügung stehende Kollege kann sich nicht zweiteilen.

 

Das berufliche Schulzentrum am Elisabethplatz: in den Ausbildungsräumen der Fachrichtung Fahrzeugtechnik. Foto: Falk Heller

Das Herumknapsen an allen Ecken und Enden bei gleichzeitigem Beharren darauf, dass Bayern das republikweite Problem Lehrkräftemangel nicht kenne, ist nach Ansicht von Lammers Gewerkschaft seit Jahren Strategie: Fast mantramäßig erklärt die GEW Bayern, in der Schule müsse es um mehr gehen als um die schlichte Anwesenheit eines Verantwortlichen: „Qualitätsvolle Bildung ist nicht nur Unterrichtsversorgung“, erklärte Ruth Brenner, Vorsitzende der Fachgruppe Grund-, Mittel- und Förderschulen in der GEW Bayern während einer Pressekonferenz im September mit der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe. Ansätze individueller Förderung – ob in AGs, Neigungs- oder Differenzierungsstunden – fänden wegen Personalmangels viel zu häufig nicht statt. „Die Flickschusterei muss ein Ende haben“, forderte Brenner. Das gilt insbesondere, weil viele bildungspolitische Modernisierungen – hin zu mehr Ganztag, mehr Inklusion, mehr heterogenen Lerngruppen – in Bayern noch kaum angekommen sind:

In München steht mit der Willy-Brandt-Gesamtschule die einzige Schule des 13-Millionen-Einwohner-Landes, in der Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse gemeinsam lernen. Im Ganztag liegt Bayern auf dem letzten, bei der Inklusionsquote auf dem vorletzten Platz. Zur bayerischen Realität gehört auch, dass es an manchen Schulformen zu viele und an anderen zu wenige Lehrkräfte gibt – was auch damit zu tun haben dürfte, dass die Bedingungen ganz andere sind. Lehrkräfte für Grund-, Mittel- und Realschule absolvieren mit einer Regelstudienzeit von sieben Semestern zwei weniger als jene für Gymnasium, Berufsschule oder Sonderpädagogik. Besoldungstechnisch werden Grundschul- und Mittelschullehrkräfte in A12 oder E11, alle anderen in A13/E13 eingestuft. Die Folge: An den Gymnasien sind die Wartelisten voll, der Mangel an Grund- und Mittelschulen ist immens.

„So überlastet man engagierte Kolleginnen und Kollegen.“ (Ruth Brenner)

„Im Schnitt fehlt an jeder Schule eine Lehrkraft; besonders schlecht ist die Lage am Untermain, dort wo Bayern an Hessen grenzt“, erklärt Martin Heilig. Der in Würzburg ansässige GEW-Bezirksvorsitzende Unterfranken verweist darauf, dass Lehrkräfte an Grund- und Mittelschulen mit 28 Unterrichtsstunden ein Drittel mehr arbeiten müssen als ihre Kolleginnen und Kollegen an weiterführenden Schulen – für 500 Euro weniger. „Auf Dauer“, so Heilig, „werden wir uns das nicht leisten können.“ Für die Grundschule immerhin stehen seit November 700 zusätzliche Studienplätze zur Verfügung. Bisher hatte das Kultusministerium lediglich mit einer „Zweitqualifizierung“ versucht, Realschul- und Gymnasiallehrkräfte gleichsam in die Grund- und Mittelschulen umzuleiten. Was die „Qualifizierung“ angeht, verbirgt sich dahinter ein schmales Programm: Die Teilnehmenden starten sofort mit nahezu vollem Deputat (minus eine Stunde) in den Unterricht – auch als Klassenleitung. Nebenbei werden sie in zwei Veranstaltungen und an fünf Nachmittagen fortgebildet. Brenner: „So überlastet man engagierte Kolleginnen und Kollegen.“

  • Bayern ist das einzige Bundesland, in dem sich die Schülerinnen und Schüler nahezu gedrittelt auf die weiterführenden Schulen verteilen: 2016/17 verließen 41.455 die Hauptschule, 39.244 die Realschule und 42.380 das Gymnasium.
  • Nach Angaben des Kultusministeriums sind 92 Prozent der Lehrkräfte verbeamtet, 3 Prozent unbefristet und rund 5 Prozent befristet angestellt.
  • Laut Prognose der KMK müssten 2019 mindestens 5.230 ausgebildete Lehrkräfte eingestellt werden. Zur Verfügung stehen aber nur 4.890 Absolventen. Diese Lücke wird bis 2025 auf 2.560 ansteigen.
  • Laut Berechnungen des Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm hat sich die Inklusionsquote in Bayern zwischen 2008/09 und 2015/16 von 16,1 auf 27,3 Prozent erhöht. Niedriger ist der Inklusionsanteil nur in Hessen.
  • Laut einer weiteren Klemm-Studie ist Bayern bei Ganztagsschulen, die nur von 16 Prozent der Schüler besucht werden, bundesweit Schlusslicht.
  • Aktuell absolvieren rund 1.440 Gymnasial- und Realschullehrkräfte eine Zweitqualifizierung. 840 sind bereits an Grund- und Mittelschulen im Dienst.

„Wir verwenden viel Energie darauf, überhaupt an belastbare Zahlen zu kommen. Von selbst liefert das Kultusministerium diese, wenn überhaupt, dann nur mit Verzögerung. Der beste Weg ist häufig, auf Parlamentarische Anfragen der Opposition zu hoffen. So wenig Transparenz ist wenig vorausschauend; wer Kapazitäten angemessen erhöhen will, muss die Realität kennen. Stattdessen wird die Lage schöngerechnet: etwa mit einem angeblichen Unterrichtsausfall von unter 2 Prozent. Das ist so, weil erstens bei der Bildungsqualität Abstriche gemacht werden und zweitens der Personalmangel auf dem Rücken der verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgetragen wird. An Förderschulen zum Beispiel liegt der Unterrichtsausfall immer bei 0 Prozent: Wo normalerweise zwei Lehrkräfte in der Klasse sind, bleibt in der Regel eine übrig. Und als Ausfall gilt nur, wenn Schülerinnen und Schüler das Gebäude verlassen müssen.“

Anton Salzbrunn, GEW-Landesvorsitzender Bayern