Zum Inhalt springen

Brasilien

Indigener Bildungshunger

An brasilianischen Universitäten studieren mittlerweile viele Indigene. Die Grundlagen dafür werden in den Dorfschulen der brasilianischen Ureinwohner gelegt.

In dem Dorf Napetanha im brasilianischen Bundesstaat Rondônia leben nur etwa 100 Menschen. Die Kinder des Dorfes werden in einer Schule von einer indigenen Lehrerin unterrichtet. (Foto: Gudrun Fischer)

Es ist ein friedlicher, heißer Samstagnachmittag im indigenen Dorf Napetanha. Hühner picken im Lehmboden, ein paar Obstbäume spenden Schatten. Zwei Caciquen, Dorfleiter, liegen in Hängematten unter dem Dach des Versammlungshauses und dösen. Almir und Mopiri Suruí leben schon immer auf dem Territorium des indigenen Volkes „Paiter Suruí“. Ihr Land ist 2.500 Quadratkilometer groß, etwa so groß wie das Saarland, und liegt im Süden des brasilianischen Bundesstaats Rondônia. Die nächste Stadt heißt Cacoal, die Fahrt dorthin dauert anderthalb Stunden.

Heute gab es auf der Erdstraße keine Schlammlöcher, sie war trocken und gut zu befahren. Indigene Territorien dürfen nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Caciquen betreten werden. Cacique Almir Suruí ist ein moderner Mann. Er spricht Portugiesisch. Er hat ein Handy und liebt die Fotos darauf. Oft ist er unterwegs, um für indigene Rechte einzutreten. Napetanha beherbergt etwa 100 Menschen, diese leben in einfachen Holzhäusern mit Veranda. Die Menschen hier bauen Gemüse und Kaffee an. Außerdem sammeln sie für den Verkauf Früchte und Nüsse im Urwald.

„Eine Lehrerin unterrichtet in diesem Raum hier, die andere in dem anderen Raum nebenan. Für Sport haben wir eine dritte Lehrerin." (Daví Oipameiuhaia Suruí)

Daví Oipameiuhaia Suruí, der neunjährige Großneffe des Cacique Mopiri, öffnet die knarrende Türe der kleinen Dorfschule. Es sind Ferien, überall liegt Staub, in den Ecken hängen Spinnennetze. Die Fenster haben keine Scheiben, wie alle Fenster im Dorf. Die Schule ist das einzige Backsteingebäude zwischen den Holzhäusern. Trotzdem wirkt sie ärmlich. „Eine Lehrerin unterrichtet in diesem Raum hier, die andere in dem anderen Raum nebenan. Für Sport haben wir eine dritte Lehrerin. Das da vorne ist unser Sportplatz.“ Der Platz ist von hohem Gras überwuchert.

„Hier ist unser Wasserfilter. Der macht komische Geräusche, und ich hatte am Anfang Angst vor ihm“, sagt Daví. Der Wasserfilter ist ein langer metallener Kasten mit einem Wasserhahn. Die Geräusche kommen von der elektrischen Kühlung. Der Wasserfilter scheint die einzige kostspielige Ausstattung an dieser Dorfschule zu sein. Das Trinkwasser, das herausläuft, ist angenehm kühl. Vor dem Wasserfilter hatte er Angst, aber vor Schlangen, die er hier oft sieht, habe er keine, sagt Daví. Nicht einmal vor Würgeschlangen.

„Unter Bolsonaro wurde alles schlimmer“

Daví erzählt, dass er in der Schule von der indigenen Lehrerin in seiner eigenen Sprache Tupí-Mondé unterrichtet werde. Ab der 5. Klasse wird er auch schreiben lernen. Die indigenen Sprachen Brasiliens sind viele tausend Jahre alt, aber sie waren immer Sprachen ohne Schrift. Erst seit kurzem lernen die Kinder das Tupí-Mondé in Wort und Schrift. Cacique Almir Suruí unterhält sich mit seinen Leuten ausschließlich auf Tupí-Mondé.

Sollte sich nicht die indigene Behörde „Funai“ um die Schule kümmern? Almir Suruí zuckt die Schultern. Den letzten Leiter der Funai hatte der frühere Präsident Jair Bolsonaro eingesetzt. „Er mochte uns Indigene nicht und zerstörte alles, was die Funai einst zur Verteidigung der Indigenen aufgebaut hatte.“ Nie sei irgendeine Regierung bereit gewesen, viel für Indigene zu tun, bemerkt Almir Suruí. „Doch unter Bolsonaro wurde alles schlimmer.“

Kinder verlassen die Dörfer

Seit 1988 steht in der brasilianischen Verfassung, dass die ungefähr 300 indigenen Völker Brasiliens das Recht haben, ihre eigene Sprache an den Dorfschulen unterrichtet zu bekommen. Cacique Mopiri Suruí, der älteste Bruder von Almir, erzählt von seinen zwölf Kindern. Sie alle besuchten die hiesige Dorfschule. Nun hätten einige studiert. „Einer meiner Söhne ist Anwalt. Der andere ist Arzt. Und zwei studieren noch Medizin. Der eine in Rondônias Hauptstadt Porto Velho, der andere hier in der Kreisstadt Cacoal. Ein anderer studiert und arbeitet in Porto Velho, er macht auch Jura. Wenn er fertig ist, kommt er hierher zurück und arbeitet hier. Dann baue ich ihm ein Haus.“

Ob es ausreicht, seinem Sohn ein Haus zu bauen, damit er zurückkehrt? Für viele ältere Indigene ist es traurig, dass ihre erfolgreichen Kinder die Dörfer verlassen. Auch Almir Suruí hat fünf erwachsene Kinder, die entweder Jura, Medizin oder Forstwissenschaften studieren. Seine 25-jährige Tochter Txai Suruí besuchte dieselbe Schule wie der kleine Daví. Als Jugendliche zog sie mit ihrer Mutter in die Landeshauptstadt Porto Velho, machte Abitur und begann mit dem Jurastudium.

„Zum einen ist die Klimafrage für uns dringend. Zum anderen leiden wir schrecklich unter Übergriffen und Gewalt.“ (Txai Suruí)

Txai Suruí wurde weltweit bekannt, als sie im Oktober 2021 auf der UN-Klimakonferenz im schottischen Glasgow die Eröffnungsrede hielt. Sie trägt eine große runde Brille, Armbänder, Piercings, Tattoos und Bemalungen. In den Ferien arbeitet sie im Büro der Indigenen-Initiative „Kanindé“. Nach ihrer Rede wurde sie in Porto Velho von Bolsonaro-Anhängern auf offener Straße bedroht.

„Zum einen ist die Klimafrage für uns dringend. Zum anderen leiden wir schrecklich unter Übergriffen und Gewalt“, sagt Txai Suruí und berichtet von Arí: „Er war ein junger Anführer des Volkes Uru-Eu-Wau-Wau. Im April 2020 wurde er getötet. Wir sind sicher, dass er ermordet wurde, weil er ein Waldwächter war.“ Einige indigene Völker stellen eigene Brigaden auf, die durch ihre Wälder streifen, um diese zu überwachen. Damit versuchen sie, Invasionen, illegale Holzeinschläge und Brände auf ihrem Gebiet zu verhindern. Doch das ist gefährlich.

Organisation der indigenen Jugendlichen

Der Tod ihres Freundes Arí belastete Txai Suruí. Daher gründete sie die Organisation der indigenen Jugendlichen von Rondônia. Sie fährt oft in indigene Territorien, wenn dort Hilfe benötigt wird. Eigentlich will ihr Vater Almir Suruí sie gerne zurück im Dorf sehen. Aber er zögert bei der Frage, ob sie die Anwältin für die Suruí-Belange werden soll. „Wir haben schon andere Anwälte. Txai könnte das natürlich auch. Aber mal sehen. Es ist schwierig. Die Verfolgungsgefahr ist sehr groß.“ Almir Suruí lebte selbst viele Jahre unter Polizeischutz. Viele engagierte Menschen werden im Amazonasgebiet ermordet. Im vergangenen Juni erschossen illegale Fischer Dom Phillips, einen britischen Journalisten. Auch sein Begleiter Bruno Pereira, der viele Jahre für die Funai gearbeitet hatte, wurde erschossen.

Ein Drittel der Indigenen Brasiliens lebt mittlerweile in Städten. Im Jahr 2011 waren 10.000 Indigene an brasilianischen Universitäten eingeschrieben. 2019 waren es schon mehr als 56.000. Trotz ihrer ärmlichen Dorfschulen ist der Bildungshunger der indigenen Jugend groß. Ihre Familien haben kein Geld, sie zu -unterstützen. Aber seit etwa zehn Jahren ermöglichen Quoten und Stipendien den Studienzugang für Indigene. Diese Erleichterungen stammen aus der ersten Regierungszeit der Arbeiterpartei PT von 2003 bis 2016. Viele Indigene sagen in Interviews, sie wollten mit ihrem Wissen die Situation ihrer Völker verbessern. So wie Txai Suruí. Sie nennt sich eine „Indigene in der Stadt“.