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Coronapandemie

Impfstoff für alle?!

Die Länder des Globalen Südens leiden besonders unter der Corona-Pandemie. Obwohl Europäische Union (EU) und Bundesregierung bei der Impfstoffherstellung von einem „Globalen Gut“ gesprochen haben, halten sie an der Patentierung fest.

Die Corona-Pandemie kann erst dann weltweit gestoppt werden, wenn allen Ländern genügend Impfstoff zur Verfügung steht. (Foto: pixabay/WiR_Pixs)

Das erschwere den ärmeren Staaten dieser Welt den Zugang zu einem Impfstoff, kritisiert Anne Jung von der entwicklungspolitischen Organisation medico international. 

  • E&W: Gesundheit ist ein Menschenrecht, das seit jeher sehr unterschiedlich verwirklicht wird. Inwieweit hat die Covid-19-Pandemie die Situation im Globalen Süden zugespitzt?

Anne Jung: Die Folgen der Pandemie sind schon durchgeschlagen, bevor das Virus überhaupt dort war. Entlang der globalen Lieferketten haben Millionen Menschen ihre Jobs verloren, etwa in der Textilindustrie. Da die Textilarbeiterinnen keine Rücklagen hatten, fehlte ihnen auch das Geld, um in ihre Herkunftsregionen zurückzugelangen. Dadurch sind sie in eine extrem prekäre Situation geraten.

Viele afrikanische Länder haben die Leute sehr schnell in den Lockdown geschickt, was eine akute Hungersnot zur Folge hatte. Die Menschen arbeiten dort meist im informellen Sektor, sie leben also von der Hand in den Mund, das hat dazu geführt, dass die Schutzmaßnahmen vor dem Virus selber lebensgefährlich waren.

Auf dem afrikanischen Kontinent konnten die Menschen zur Behandlung anderer Krankheiten nicht mehr ins Krankenhaus gehen. Wir sehen schon jetzt, dass es im Verlauf des ersten Pandemiejahres einen erheblichen Anstieg bei Malaria-Infektionen  und bei HIV/AIDS gab. Und dann kam sukzessive das Virus selbst im Globalen Süden an. In Brasilien, Indien, Afghanistan gibt es bis heute nicht genügend Zugang zum Impfstoff, so dass das Virus sich sehr stark weiterverbreitet.

  • E&W: Manche Schwellenländer sind auf dem Weg, die Herdenimmunität zu erreichen. Da werden manche fragen: Ist es nicht schon zu spät, können Impfstoffe noch etwas ausrichten?

Jung: Es ist auf keinen Fall zu spät, gerade bei Menschen mit Vorerkrankungen ist es notwendig, diese zu schützen, weil sonst das Risiko hoch ist, dass sie sterben. Und gerade diejenigen, die, wie man in Südafrika sagt, „Frontline Worker“ sind oder etwa Careworker, die in den Townships die Menschen versorgen – ohne Schutzmaßnahmen wie Masken –, müssen geschützt werden. Jetzt erleben die Menschen im Globalen Süden in massiver Weise, auf sich alleine gestellt zu sein, dass sie im Stich gelassen werden. Das berichten auch unsere Projektpartnerinnen und -partner. Sie bekommen zu hören: „We don‘t feel you.“

  • E&W: Wiederholt sich bei Covid das Szenario der hochpreisigen AIDS-Medikamente – nämlich, dass vor allem Patienten in reicheren Industrieländern von den Impfstoffen profitieren?

Jung: Nach den Ankündigungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Mai vergangenen Jahres, dass Gesundheit als Menschenrecht zu begreifen sei, war ich eigentlich hoffnungsfroh. Ursula von der Leyen (CDU), die Präsidentin der EU-Kommission, hat von den „Commons“ gesprochen, von einem öffentlichen Gut. Diese Hoffnung wurde sehr schnell enttäuscht. Heute erleben wir, dass die Bundesregierung und die Regierungen der anderen EU-Länder ein wichtiges Instrument torpedieren, nämlich die Aushebelung des Patentschutzes, was eine schnellere Produktion und Verteilung des Impfstoffs ermöglichen könnte. Europa hat die Chance verpasst, eine gerechtere Verteilung im Globalen Süden zu ermöglichen.

  • E&W: Das Gegenargument lautet: Ohne Patente lohnt sich die Forschung für die Konzerne nicht, ohne Patente gibt es keine neuen Impfstoffe.

Jung: Das halte ich für einen Mythos, der durch wirtschaftliche Interessen geleitet wird. Grundlagenforschung, selbst für einen neuartigen Impfstoff wie den von Biontech-Pfizer, wird über öffentliche Forschung finanziert, an Universitäten, an Forschungsinstituten, über Jahre hinweg.

Um nur mal eine Zahl zu nennen: 7,2 Milliarden Euro staatlicher Mittel sind in die Covid-19-Impfstoff-Forschung gesteckt worden, dazu 86 Milliarden Euro in Abnahmeversprechen für Impfstoff-Dosen. Das heißt: Viele Firmen haben zwischen 30 und 80 Prozent ihrer Mittel von der öffentlichen Hand bekommen.

Wenn Organisationen wie medico fordern, die Patente auszusetzen, geht es ja nicht darum, dass die Pharmaindustrie kein Geld mehr verdienen soll. Man kann sich leicht ausrechnen, was für einen Gewinn die Pharmabranche allein durch den Vertrieb macht, wenn 60 Prozent der Menschen auf der Welt geimpft werden.

  • E&W: Es gibt derzeit zwei Ansätze, um dem Globalen Süden zu helfen, einmal im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO, dann im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO – was unterscheidet die beiden Ansätze?

Jung: Bei der WHO ist die Covax-Initiative angedockt, ein klassisches Public Private Partnership, bei der Regierungen und philantro-kapitalistische Bewegungen wie die Welcome Foundation oder die Bill & Melinda Gates Foundation zusammenkommen. Die schnelle und weltweite Verteilung des Impfstoffs soll auf Spendenbasis ermöglicht werden.

Dieser Ansatz ist notwendig geworden, weil der zweite mögliche Weg bisher nicht beschritten wurde, nämlich eine rechtliche Verbesserung. Es gibt eine Initiative von Südafrika und Indien, zwei der Länder, die weltweit am stärksten von der Covid-19-Pandemie betroffen sind und die zugleich besondere Erfahrungen haben mit der kostengünstigen Bereitstellung von AIDS-/HIV-Medikamenten. Diese Länder haben schon im Oktober 2020 eine Ausnahmeregelung zur Aussetzung der Patente gefordert, so wie es im TRIPS-Abkommen, das international die Rechte an geistigem Eigentum regelt, im Fall einer globalen Notlage vorgesehen ist.

  • E&W: Auch die Bildungsinternationale (BI) befürwortet diesen Ansatz. Was wären die Vorteile dieser Strategie?

Jung: Die Covid-Impfstoffe könnten kostengünstig dezentral hergestellt werden: an mehr Produktionsstandorten, zu niedrigeren Kosten. Wir sprechen nicht über Enteignung, die Pharma-Firmen würden trotzdem noch Geld verdienen. Von 164 Mitgliedsländern der WTO fordern bereits 100 diesen „Waiver“, aber noch ist die notwendige Dreiviertelmehrheit nicht zustande gekommen. Die EU-Länder blockieren mit dem Argument: Die Ausnahmeregelung gefährdet Covax. Das bringt die ärmeren Länder in die Position, dass sie Hilfsempfängerinnen bleiben, vom Goodwill und der Spendenbereitschaft abhängen. Covax ist aber ein Feigenblatt, das nicht einmal funktioniert – die Spendenbereitschaft reicht nicht aus.

  • E&W: Wird die Spaltung zwischen Reich und Arm durch Corona weiter wachsen?

Jung: Das Virus ist wegen der absolut unterschiedlichen Folgen, die die Pandemie für die Länder und die Individuen hat, ein Gleichmacher und ein Ungleichmacher zugleich. Aber auch unser Alltag verändert sich stark, deswegen gibt es eine große Empathie, und das ist eine wichtige Grundlage für politisches Handeln. In diesem Jahr der Landtagswahlen und der Bundestagswahl ist es ganz wichtig, der Politik deutlich zu machen, dass die Bevölkerung mit dieser einseitigen Ausrichtung und diesem Versagen im globalen Handeln nicht einverstanden ist. Wer vom Menschenrecht auf den bestmöglichen Zugang zur Gesundheit spricht und dabei die Frage der Patentierung nicht erwähnt, verspielt seine Glaubwürdigkeit. Patente haben im Kontext von Medikamenten für global bedrohliche Krankheiten nichts verloren.

Anne Jung ist Politikwissenschaftlerin und bei medico international für den Bereich Globale Gesundheit zuständig. (Foto: Jörg Schaaber)