Zum Inhalt springen

Kita des Jahres

Ihr Wort zählt – egal, wie klein sie sind

Die Kinder dürfen bei allem mitbestimmen, Inklusion wird ganz selbstverständlich gelebt: Dafür ist die Kindertagesstätte St. Sebastian in Südhessen als „Kita des Jahres 2019“ ausgezeichnet worden.

Die katholische Kita St. Sebastian im hessischen Eppertshausen ist „Kita des Jahres 2019“. Foto: Christoph Boeckheler

Aus alten Autoreifen haben die Erzieherinnen und Erzieher für das Sommerfest der katholischen Kita St. Sebastian in Eppertshausen eine Rennstrecke aufgebaut. Die Kinder konnten vorher mit bunten Muggelsteinen über das Motto abstimmen. Klarer Sieger: Bobbycarrennen. Ben, 5, hat von der Wahl ein Protokoll gemalt. Das Bild mit lila Strichmännchen zeigt, dass es acht Stimmen für „Regenbogen“ gab, elf für „Pony/Einhorn“ und 25 für die knallroten Rutschautos. Beim Büfett werden – neben Brötchen, Gurkensalat und Karotten – auch Fanta und Kaugummieis aufgetischt. Denn in der Kita gilt: „Die Kinder dürfen bei allem mitbestimmen“, erklärt Kita-Leiterin Veronique Braun. Partizipation und Inklusion werden in der Kindertagesstätte ganz selbstverständlich gelebt. Dafür wurde die Einrichtung in dem kleinen Ort in Südhessen als Kita des Jahres 2019 ausgezeichnet.

An einem Sommertag flitzen die Kinder durch den Garten, einige nur in Socken, andere barfuß. Zwei Mädchen kurven mit Fahrrädern über die Pflastersteine, hinterher düst ein Junge im Rollstuhl. Mittendrin sitzt Alexander, schiebt ein Spielzeugauto hin und her. Der Sechsjährige hat eine Muskelschwäche, rutscht mit schmutzigen Strümpfen auf dem Po zur Schaukel rüber. Aktuell werden in der Einrichtung vier Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung betreut. „Für die Kinder ist das ganz normal“, sagt Erzieherin Susanne Markwitz. Wenn sie im Turnraum von der Sprossenwand springen, lacht Alexander jedes Mal lauthals. Die Kinder machen extra Faxen für ihn. Die Erzieherinnen und Erzieher lernen, worauf es beim Umgang mit den behinderten Kindern ankommt: Wie trägt man ein Mädchen mit Glasknochenkrankheit? Wie wechselt man einem Jungen mit offenem Rücken den Katheter? Und was tun bei einem Epilepsieanfall?

Kinderparlament und -beirat

Die Jury des Kita-Preises hebt hervor, dass es der Einrichtung nicht nur gelingt, Kinder mit Schwerstbehinderung zu integrieren. Ihr Anspruch auf Teilhabe und Förderung beziehe sich vielmehr auf alle Kinder mit ihren unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen. Ihr Konzept orientiere sich am Situationsansatz, erläutert Braun. „Wir gehen von den Lebenswelten der Familien aus.“ Dabei schauten sie stets: Was brauchen die Kinder konkret vor Ort? Fotos, zum Beispiel. Viele Kinder kommen aus Zuwanderfamilien, aus Eritrea, Syrien, Spanien oder Polen. Einige verstehen in der Kita so gut wie kein Wort. Also fragten die Fachkräfte die Mädchen und Jungen: Was können wir tun?

Wenn sie in den Wald gehen, halten sie jetzt Bilder von Rucksäcken und Trinkflaschen hoch, am Speiseplan kleben Fotos von Äpfeln und Nudeln. Klar, es gebe fertige Bildkärtchen, sagt die Leiterin. Aber sie wollten nichts vorwegnehmen. Es gehe darum, dass die Kinder selber Lösungen entwickelten. So tagt zum Beispiel in der Kita alle paar Wochen das Kinderparlament, außerdem gibt es einen Kinderbeirat. Wie sie die Partizipation am besten fördern, lernen die Fachkräfte in Fortbildungen.

Die 120 Mädchen und Jungen sind in zwei Krippen- und fünf Kindergartengruppen aufgeteilt, dürfen sich jedoch frei im Haus bewegen. „Sie sind den ganzen Tag unterwegs, haben aber in ihrem Gruppenraum ein festes Zuhause“, berichtet die Leiterin. Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher ist in erster Linie, die Kinder zu beobachten, jederzeit ansprechbar zu sein. „Oft habe ich das Gefühl, dass wir überflüssig sind“, sagt Braun. „Das ist unser Ziel.“

Eine Fachkraft ist rechnerisch für zehn bis zwölf Kinder zuständig, je nachdem, ob behinderte Kinder dazu gehören oder nicht. Generell gilt: In den Regelgruppen kommen auf 25 Kinder 1,75 Vollzeitstellen. In der altersgemischten Gruppe mit Kindern ab zwei Jahren sowie der Integrationsgruppe sind es 20 Kinder. Aktuell ist eine Stelle vakant.

„Die Kinder lernen: Ihr Wort zählt, egal, wie klein sie sind.“ (Susanne Markwitz)

Die einzelnen Räume sind in Bildungsbereiche eingeteilt: Kreativität, Bewegung, Bauen, Rollenspiel, Naturwissenschaften. Die Kinder können Murmelbahnen bauen, mit Matsch spielen – oder weiße Schnecken beobachten, groß wie Kaffeebecher. Wieder so ein Beispiel: Ein Junge hatte auf dem Weg zum Kindergarten immer Nackt- und Weinbergschnecken gesammelt, zur Begeisterung der anderen Mädchen und Jungen, die Tante eines Kindes lieh der Kita daraufhin ihre malaysischen Landschnecken aus. Für die Kinder stand fest: So etwas wollen sie auch. „Wir haben uns darauf eingelassen“, so Braun. Die Kinder verkauften alte Spielsachen, um Geld für das Terrarium aufzubringen. Jetzt füttern sie die Schnecken, bauen ihnen auf dem Tisch gerne mal einen Kriechparcours auf.

Die Kita bemüht sich nach Kräften, die Wünsche von Kindern und -Eltern aufzugreifen. Öffnungszeiten von 7 bis 17 Uhr zum Beispiel, ganzjährig. Im vergangenen Jahr wünschten sich die Eltern, dass es ein gemeinsames Frühstück gibt und sie keine Brotboxen mehr mitgeben müssen. Das Team sei zunächst skeptisch gewesen, berichtet Erzieherin Markwitz. Es folgten Umfragen, Konferenzen mit Eltern und Kindern. Schließlich willigten die Fachkräfte ein. Fazit: „Es funktioniert richtig gut“, sagt die Pädagogin. Ein andermal beschwerten sich Kinder, dass sie nur zu bestimmten Zeiten nach draußen gehen durften. Seither ist der Garten immer geöffnet, ebenso der Turnraum und die Bauecke.

„Die Kinder lernen: Ihr Wort zählt, egal, wie klein sie sind“, betont Markwitz. „Sie merken, dass sie etwas verändern können. Das gibt ihnen sehr viel Selbstbewusstsein.“ Auch die Jury des Kita-Preises lobte die Beschwerdekultur und die Förderung von Zivilcourage in der Kita. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Noch steht nicht fest, wofür die Kita das Geld verwendet. Die Kinder wünschen sich eine Hängematte und einen Boxsack, die Eltern einen Kaffeevollautomaten. Und das Team würde gerne noch eine Spielebene einziehen. Fest steht: „Alle entscheiden gemeinsam.“